Der Kapitalismus hat seine Wuzeln im Protestantismus

Geld bedeutet heute eigentlich nichts, außer man glaubt daran. Ursprünglich waren die Menschen der Ansicht, ein Silber- oder Goldstück enthalte eine geeichte Menge Silber oder Gold. Später glaubten sie, ein Geldschein könne in Gold eingetauscht werden, weil jedes Land in seiner Staatsbank genügend Goldvorräte habe. Paul Verhaeghe ergänzt: „Heute geht es um den Glauben, dass Banken, Staaten und Institutionen ihre Schulden zurückzahlen können.“ Die Macht des Geldes liegt wie diejenige der Autorität auf dem Glauben an eine externe Grundlage. Früher war das eine greifbare Garantie, nämlich die nationale Goldreserve. Heute basiert sie auf Kreditwürdigkeit. Der Glaubensaspekt beschränkt sich nicht nur auf das Geld, sondern betrifft die gesamte Ökonomie des freien Marktes an sich. Paul Verhaeghe lehrt als klinischer Psychologe und Psychoanalytiker an der Universität Gent.

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Wir alle sind Gefangene der Zeit

In 13 Essays zeigt Christopher Clark in seinem neuen Buch „Gefangene der Zeit“ wie sehr historische Ereignisse und Taten über die Zeiten hinweg fortwirken. An den Vorstellungen von Macht und Herrschaft hat sich bis heute wenig geändert. Die Religion, politische Macht und das Bewusstsein der Zeit sind für Christopher Clark prägende Säulen der neueren europäischen Geschichte. Die religiöse Tradition ordnet dabei das menschliche Bestreben in den größtmöglichen Kompass ein. Politische Macht verbindet Kultur, Wirtschaft und Persönlichkeit mit Entscheidungen, die eine große Anzahl von Menschen betreffen. Die Zeit schließlich wird von Narrativen, religiösen ebenso wie säkularen, konstruiert und geformt. Sie verrät, wie die Präsenz von Macht, in welcher Form auch immer, das menschliche Bewusstsein und den Sinn für Geschichte prägen. Christopher Clark lehrt als Professor für Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine`s College in Cambridge.

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An der Oberfläche der Geschichte herrscht das Bewusste

Ein einfaches Modell ermöglicht eine geschichtliche Darstellung der menschlichen Gesellschaften und ihrer Veränderungen. Emmanuel Todd erläutert: „An der Oberfläche der Geschichte entdecken wir das Bewusste, die Wirtschaft der Ökonomen, die täglich in den Medien präsent ist und deren neoliberale Ideologie in einer merkwürdigen Rückbesinnung auf den Marxismus verkündet, dass sie das Ausschlaggebende sei. Zu diesem Bewussten, dem Schrillen, wie man sagen könnte, gehört natürlich auch die Politik.“ Etwas tiefer stößt man auf ein Unterbewusstes der Gesellschaft, auf die Bildung, eine Schicht, deren Bedeutung die Bürger und Kommentatoren erkennen, wenn sie an ihr reales Leben denken, während sich die orthodoxe Sicht weigert, vollauf anzuerkennen, wie entscheidend sie ist und wie stark sie auf die darüberliegende bewusste Schicht einwirkt. Emmanuel Todd ist einer der prominentesten Soziologen Frankreichs.

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Autoritäre und totalitäre Regime sind paternalistisch

Der amerikanische Rechtsphilosoph Joel Feinberg schrieb ein maßgebliches Werk über die Rechtfertigungen für die Einschränkung der Redefreiheit durch das Strafrecht. Für Timothy Garton Ash ist sein Buch eine gute Grundlage, um darüber nachzudenken, mit welchen Mitteln, vom härtesten Gesetz bis zur weichsten Norm, die freie Meinungsäußerung legitimerweise beschränkt werden darf. Die ersten vier Rechtfertigungen, denen er je einen ganzen Band widmet, lauten: Schaden für andere, Beleidigung anderer, Schaden für die eigene Person und harmloses Fehlverhalten. Joel Feinberg beschreibt Versuche, die beiden Letzteren vom gesetzlichen Paternalismus und gesetzlichem Moralismus abzugrenzen. Gesetzlicher Paternalismus bedeutet, dass sich der Staat wie ein Vater zu seinen Kindern verhält und versucht, seine Bürger davon abzuhalten, sich selbst zu schaden. Der britische Zeitgeschichtler Timothy Garton Ash lehrt in Oxford und an der kalifornischen Stanford University.

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Alle Menschen besitzen die gleiche Würde

Martin Luther, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel hatten unterschiedliche Vorstellungen von Würde. Aber alle waren Universalisten. Denn sie glaubten an die Gleichheit der Würde aller Menschen aufgrund ihres Potenzials für innere Freiheit. Francis Fukuyama ergänzt: „Indes nimmt das Verlangen nach Anerkennung häufig eine speziellere Form an und konzentriert sich auf die Würde einer bestimmen Gruppe, die marginalisiert oder missachtet worden ist.“ Im Lauf der Geschichte verstanden viele Menschen das innere Selbst, das sichtbar gemacht werden musste, nicht als Teil aller Erdenbürger. Sondern sie betrachteten es als Teil einer spezifischen Person mit genau definierter Herkunft und ebensolchen Bräuchen. Francis Fukuyama ist einer der bedeutendsten politischen Theoretiker der Gegenwart. Sein Bestseller „Das Ende der Geschichte“ machte ihn international bekannt.

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Hass kann sich zu einem Flächenbrand ausweiten

Oscar Wilde stellte die rätselhafte Behauptung auf: „Die meisten Menschen sind jemand anderes.“ Er begründete seine Ansicht sehr überzeugend: „Ihre Gedanken sind die Meinungen anderer, ihr Leben ist Nachahmung, ihre Leidenschaften sind Zitate.“ Amartya Senn stimmt dieser Auffassung zu: „Tatsächlich werden wir in erstaunlichem Maße von Menschen beeinflusst, mit denen wir uns identifizieren.“ Sektiererischer Hass kann sich, wenn er aktiv geschürt wird, zu einem Flächenbrand ausweiten. Amartya Sen nennt als Beispiele den Kosovo, Bosnien, Ruanda, Timor, Israel, Palästina und den Sudan. Das Gefühl der Identität mit einer Gruppe kann, entsprechend angestachelt, zu einer mächtigen Waffe werden, mit der man anderen grausam zusetzt. Amartya Sen ist Professor für Philosophie und Ökonomie an der Harvard Universität. Im Jahr 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie.

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Die Idee einer einzigen Identität ist eine Illusion

Amartya Sen zeigt in seinem Buch „Die Identitätsfalle“, dass die falsche Illusion einer einzigen Identität den Krieg der Kulturen zwischen dem Westen und dem Islam konstruiert und fatal vorantreibt. Dabei wird die Welt immer mehr aufgeteilt in statische Blöcke aus Religionen, Kulturen oder Zivilisationen. Faktoren des menschlichen Daseins geraten dabei immer mehr aus dem Blick. Amartya Sen zählt dazu unter anderem den Beruf, die Wissenschaft, die Moral oder die Politik. Globale Bemühungen, der eskalierenden Gewalt Einhalt zu gebieten, scheitern vor allem an einer eindimensionalen Konstruktion von Identität. Das Geschäft der Fundamentalisten besteht in einer Miniaturisierung der menschlichen Existenz, mit der alle Ideologie der Gewalt ihren Anfang nimmt. Amartya Sen ist Professor für Philosophie und Ökonomie an der Harvard Universität. Im Jahr 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie.

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Es gibt keinen Weg zurück in eine homogene Gesellschaft

Die Vorstellung von Pluralisierung beruht auf dem grundlegenden Missverständnis, dass die Vielfalt, dass die Pluralisierung eine Gesellschaft unverändert ließe. Woher rührt diese falsche Vorstellung. Isolde Charim erläutert: „Sie rührt daher, dass man glaubt, gesellschaftliche Vielfalt sei eine Ansammlung unterschiedlicher Kulturen und Religionen. Gesellschaftliche Vielfalt sei einfach eine Addition.“ Da gäbe es das Bestehende, das sind die Einheimischen, und zu denen käme dann einfach etwas Neues hinzu: beispielsweise die Türken oder die Jugoslawen. Aber Pluralisierung ist keine Addition. Es ist für Isolde Charim das Gebot der Stunde zu verstehen, was Pluralisierung eigentlich bedeutet. Und da muss man zweierlei festhalten: Erstens: Pluralisierung ist ein unhintergehbares Faktum. Es gibt keinen Weg zurück in einen nicht-plurale, in eine homogene Gesellschaft. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

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Eine kitschige Weltsicht verspricht Halt und Orientierung

Die Rationalität ist der Treibstoff des wissenschaftlichen Denkens, von sachlicher Abwägung und nutzenorientiertem Pragmatismus. Genau hierin aber wittert die sentimentale Seele die Ursache für die Ausbeutung, Ungleichheit, der Unfähigkeit zum Frieden und die Zerstörung der Natur. Alexander Grau fügt hinzu: „Diesem imaginierten Szenario der Entfremdung setzt das kitschige Bewusstsein eine Version absoluter Empathie, Gefühligkeit und Harmonie entgegen.“ Nur sie sind in der Lage, bestimmte Normen und Verhaltensweisen zu entwickeln. Diese sollen nicht nur einen schonenden Umgang der Menschen untereinander ermöglichen, sondern auch des Menschen mit der Natur. Dass in der Natur selbst Kategorien wie Empfindsamkeit, Empathie und Achtsamkeit überhaupt nicht vorkommen, stört das kitschige Gemüt naturgemäß wenig. Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist.

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Das Grundgesetz sichert die Menschenwürde

Das gesamte Recht in Deutschland berücksichtigt die wichtigsten Grundwerte der Gesellschaft – Menschenwürde, Menschlichkeit und die Gleichheit aller. Jens Gnisa ergänzt: „Das Grundgesetz als oberstes Gesetz sichert das allen Bürgern zu. Jedes andere Gesetz hat diese Werte zu beachten, darüber wacht das Bundesverfassungsgericht.“ Auch die Behörden haben sie bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen, ebenfalls die Gerichte, wenn sie deshalb angerufen werden. Auf jeder dieser Stufen wird als die Menschenwürde streng beachtet. Den Vorstellungen des Rechts folgend, ist nach einer rechtskräftigen und abschließenden Entscheidung gar kein Platz mehr dafür, dass gesellschaftliche Gruppen diese Ergebnisse infrage stellen. Es ist gesetzt und soweit unantastbar. Dies gilt selbstverständlich auch im Ausländerrecht. Jens Gnisa ist Direktor des Amtsgerichts Bielefeld und seit 2016 Vorsitzender des Deutschen Richterbundes.

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Schönes führt zu einem besseren Leben

Die Sprache selbst ist unfähig, alles zugleich zu ergreifen – dies geht nur in Zurückgezogenheit und Schweigen –, aber die Sprache kann dennoch eine Welt erzeugen, sie schaffen. Erst die Unterscheidungen, die Menschen nutzen, erzeugen die Wirklichkeit. Für Frank Berzbach ist diese Erkenntnis eine der großen Einsichten der Differenz- und Systemtheorien. Und es ist entscheidend welche Welt die Sprache erschafft. Sich den Alltagsformen zu widmen, über den Alltag nachzudenken, erfordert und erzeugt Formbewusstsein. Wenn Kunst, Lebenskunst und die Schönheit zu Hause beginnen, existiert nur noch der persönliche Alltag. Dieser besteht aus so einfachen Aspekten, dass man Gefahr läuft, sie zu unterschätzen. Auch darf man nicht vergessen, dass alle Eckpunkte des Alltags miteinander vernetzt sind. Dr. Frank Berzbach unterrichtet Psychologie an der ecosign Akademie für Gestaltung und Kulturpädagogik an der Technischen Hochschule Köln.

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Die verdrängten Wünsche kann nur ein Psychoanalytiker erschließen

Sigmund Freud geht von zwei entscheidenden Trieben des Menschen aus, dem Todestrieb, dessen Ziel sei, Leben zu zerstören, und dem Geschlechtstrieb, dessen Ziel sei, Leben zu erhalten. Wie Sigmund Freud sagt, sind Triebe niemals bewusst. Philipp Hübl erklärt: „Wie viele mentale Ausdrücke führt auch „Trieb“ ein Doppelleben. Die rein funktionale Lesart fasst Trieb also als einen Mechanismus auf, der etwas macht, also bestimmte Wirkungen hat.“ Spricht man von den menschlichen Trieben im Sinne von Wünschen, die intentional sind und sich im Bewusstsein äußern, so sind sie sowohl durch ihren Inhalt als auch durch ihre Form, ihren mentalen Modus, bestimmt. Wie die heutige Forschung teilt auch Sigmund Freud Wünsche und Emotionen in zwei Teile auf. Philipp Hübl ist Juniorprofessor für Theoretische Philosophie an der Universität Stuttgart.

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Der Fundamentalist diskutiert nicht

Wer nicht integrieren kann, muss ausschließen. Wer zu keiner Weite gekommen ist, dem scheint das Enge natürlich. Wem die lustbetonte Vielfalt Unbehagen bereitet, der findet in strenger Einfalt Entlastung. Georg Milzner stellt fest: „Auf verschiedenen politischen und wirtschaftlichen Sektoren lässt sich gegenwärtig wie in einigen Religionen dasselbe beobachten: die Hinwendung zum Fundamentalismus.“ Dieser Fundamentalismus hat spezifische Kennzeichen. Zum einen: Der Fundamentalismus diskutiert nicht. Oder zumindest nicht wirklich. Denn wenn zu einer Diskussion die Möglichkeit der Überzeugung durch das bessere Argument gehört, so merkt man im Gespräch mit dem Fundamentalisten, dass dies hier nicht gilt. Denn es sind seine Grundannahmen, die das Gespräch bestimmen. Grundannahmen, die nicht diskutierbar scheinen. Georg Milzner ist Diplompsychologe und arbeitet in eigener Praxis als Psychotherapeut.

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Die eigene Identität ist durch die Pluralisierung bedroht

Alle pluralisierten Schauplätze verdoppeln sich. Wahlweise könnte man auch sagen, dass sie sich spalten. Isolde Charim nennt als Beispiel die Identität. Der Schriftsteller Navid Kermani meinte in einem Interview, die Menschen im Westen leben heute „in einem fragilen Gleichgewicht“, das ständig bedroht sei durch die unterschiedlichen Identitäten. Denn, so Navid Kermani, „Identität bildet sich selbst im friedlichen Fall in Abgrenzung von anderen heraus“. So unmittelbar einleuchtend dieser Satz auch zu sein scheint – für eine pluralistische Gesellschaft trifft er nicht ganz zu. Nicht weil pluralisierte Gesellschaften sich so an ihrer Buntheit und Vielfalt erfreuen würden, dass sie im Taumel einer umfassenden Umarmung versinken würden. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

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Die Philosophen waren in der Antike sehr populär

Die griechische Welt der Antike war eine Börse der Ideen und ein Experimentierfeld der Politik. Man bekämpfte einander, fand sich zu Bündnissen zusammen, experimentierte mit bundesstaatlichen Modellen. Bernd Roeck weiß: „Kriege und innere Krisen, wie sie Athen in dichter Folge seit dem Tod des Perikles, 429 v. Chr., erlebte, wirkten sich keineswegs ungünstig auf das kulturelle Leben aus.“ Im Gegenteil vergrößerten Umbruch und Chaos den Markt für Philosophen, weil sie Orientierung versprachen und eine Erziehung anboten, die half, sich in einer komplizierten Gesellschaft durchzusetzen und Erfolg zu haben. Außerdem zeigte sich ein lernbegieriges Publikum bereit, Gelehrsamkeit und Rhetorik – wichtiges Handwerkszeug im politischen Geschäft – zu entgelten. Bernd Roeck ist seit 1999 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Zürich und einer der besten Kenner der europäischen Renaissance.

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Die eigene Vorstellungswelt ist stark begrenzt

Eine effektive und nachhaltige Möglichkeit zur Überwindung der Begrenztheit der eigenen Vorstellungswelt ergibt sich aus der Begegnung mit anderen Menschen und deren fremdartigen, von den eigenen Überzeugungen abweichenden Vorstellungen. Gerald Hüther ergänzt: „Solche Begegnungen öffnen und relativieren die eigen Selbst- und Weltbilder.“ Die Erfahrungen des schmerzhaften Scheiterns bei der Verfolgung seiner eigenen Vorstellungen ziehen sich wie ein roter Faden durch die gesamte Menschheitsgeschichte. Spätestens seit dem letzten Jahrhundert zeichnet sich aber ab, dass sogar totalitäre Herrschaftssysteme längerfristig außerstande sind, ihre jeweiligen Vorstellungen auf Kosten anderer durchzusetzen. Selbst die grausamen Versuche, die von solchen Gemeinschaften entwickelten Selbst- und Weltbilder durch Kriege und die Unterwerfung Andersdenkender aufrechtzuerhalten, sind letztlich immer wieder gescheitert. Gerald Hüther zählt zu den bekanntesten Hirnforschern in Deutschland.

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Heimat ermöglicht die Erfahrung von Transzendenz

Heimat ist gleichermaßen Raum wie Idee religiöser Rückbezüglichkeit. Ihre Möglichkeit zur Bewältigung diverser Ambivalenzen ermöglicht vielen Individuen, welcher Religion auch immer, eine Religiosität ohne Gottesbezug. Christian Schüle erläutert: „Die spätmoderne, dauererregte, beschleunigte in ihrer Multioptionalität bedrängende Lebenswelt ist gekennzeichnet durch einen hohen Grad Paradoxien.“ Heimat als emotional erinnerbare Gegenwart hingegen ist ein fundamentales Versprechen auf Reduktion der Komplexitäten durch Kohärenz: auf den sinnstiftenden Einklang von Selbst und Umwelt, der Ambivalenzen ja gerade auflöst. In der Reduktion eignet Heimat sich als Schutzraum, der ermöglicht, was kaum noch vermittelbar ist: Transzendenz-Erfahrung. Heimat ist auch das, was sich auf Dauer durch sich selbst bewährt. Sie erhält Geltung durch die Bindung des Menschen an Orte, Böden, Rituale, die durch die Biografie beglaubigt sind. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Die Politik muss die gesellschaftlichen Werte schützen

Georg Pieper vertritt die These, dass beim Thema Werte zunächst einmal die Politik gefragt ist. Die Werte zu schützen ist ihre große Aufgabe: „Politiker müssen unmissverständlich vermitteln, dass Werte wie Demokratie, Akzeptanz des Andersartigen, Freiheitsrechte oder Gleichberechtigung unantastbar sind und absolute Gültigkeit haben.“ Sie müssen Regeln formulieren und deutlich machen, dass diese Regeln von jedem Einzelnen einzuhalten sind. Hier sind nach der Überzeugung von Georg Pieper Klarheit und Konsequenz gefragt. Sowohl was den Umgang mit Gruppierungen und Bewegungen angeht, welche die Werte in Deutschland in Frage stellen oder sogar bekämpfen, als auch im Zusammenleben mit Geflüchteten, die eine andere Sozialisation als die Deutschen haben. Das konsequente Eintreten des Staates für die Grundwerte des Zusammenlebens gibt den Bürgern ein Sicherheitsgefühl und psychischen Halt und Orientierung. Dr. Georg Pieper arbeitet als Traumapsychologe und ist Experte für Krisenintervention.

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Wie Gott ist die Nation heilig

Der Nationalismus sollte sich als die erfolgreichste revolutionäre Bewegung der Moderne erweisen. Er sollte Reiche zu Fall bringen, Tyrannen stürzen und zur Gründung einer Vielzahl neuer politischer Staaten führen. Er war gewissermaßen auch, wie ein Interpret schrieb, „die Erfindung der Literaten“, was man nicht unbedingt mit weltverändernden Projekten verbindet. Terry Eagleton ergänzt: „Und der wichtigste Grund dafür war die Bedeutung, die der Nationalismus dem Kulturbegriff beimaß.“ Vor allem durch den revolutionären Nationalismus gelang es dem Kulturbegriff, so abstrakt und ungreifbar er zunächst auch erscheinen mochte, das Antlitz der Erde zu verändern. Das Verlangen der Nationen, von ihren Kolonialherren frei zu sein, erwies sich als die wirkungsvollste Verbindung von Kultur und Politik in der Moderne, weit effektiver als die sogenannte Kulturpolitik der Gegenwart. Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.

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Die Postmoderne hält das Gerede von Identität für einen Wahn

Um kaum einen Begriff herrscht seit Jahrzehnten solch ein Gezerre wie um das Wort „Identität“. Die Linke trägt ihn stolz vor sich her, wenn sie „Identitätspolitik“ betreibt. Die Rechte, allen voran die „Identitäre Bewegung“, versucht, ihn neuerdings für ihre Zwecke zu kapern. Die Postmoderne hält jegliches Geschwätz von Identität für einen Wahn. Vielleicht kann die Wissenschaft hier für mehr Klarheit sorgen. Thea Dorn schreibt: „Die Freiheit der Forschung ist ein weiteres hohes Gut, auch in unserem Land. Ebenso wie die Freiheit des Glaubens.“ Aber sobald im politischen Diskurs wissenschaftliche Annahmen – keine hinreichend gesicherten Erkenntnisse – und religiöse Überzeugungen als vermeintlichen Totschlagargumente aus der Tasche gezogen werden, sind sie tatsächlich nur noch eins: Totschläger. Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

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Die Aufklärung stellte die Vernunft ins Zentrum des Denkens

Die Aufklärung bot eine Möglichkeit, den erwachenden Machtanspruch der urbanen Mittelschicht argumentativ zu untermauern. Philipp Blom zählt die Argumente auf: „Wir sind alle gleich, alle frei, haben alle dieselben Rechte, jeder von uns muss die Möglichkeit haben, sein Leben zu gestalten und in der Gesellschaft eine Rolle zu spielen.“ Jeder Mensch hat ein Anrecht auf Respekt, unabhängig von seiner Religion, seinen Überzeugungen, seiner Herkunft. Gleichzeitig machte es das Zusammenleben von sehr unterschiedlichen Menschen möglich, solange sich alle, wie die Aufklärer argumentierten, an die Gesetze hielten, welche die Vernunft diktierte und die im Allgemeinen Willen zum Ausdruck kamen. Sowohl die Aufklärer als auch ihr erklärter Feind Jean-Jacques Rousseau argumentierten mit dem Allgemeinen Willen, der von der Gemeinschaft ausgedrückt wird. Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford und lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien.

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Die größte Sucht der Gegenwart ist die Eifersucht

Von Beginn ihres Lebens wird den meisten Menschen gesagt, dass etwas aus ihnen werden soll, dabei sind sie bereits jemand, wenn sie diese Welt betreten. Es sollte allerdings im Leben auch darum gehen, sich wohlzufühlen, zu sein, der man ist, und genau das zu akzeptieren. Klaus Biedermann stellt fest: „Das Ego wird aber ständig von dem Wunsch gespeist, anders zu sein, und deshalb niemals satt. Es kann gar nicht satt werden, da es immer jemanden geben wird, der reicher, schöner, intelligenter, stärker oder schlauer ist als man selbst.“ Dieses Drama setzt sich bis in die Beziehungen vieler Menschen fort. Eine der größten Süchte der Gegenwart ist – neben der Habsucht – die Eifersucht. Dr. phil. Klaus Biedermann leitet seit mehr als 30 Jahren Selbsterfahrungskurse und Burn-In-Seminare in seiner Sommerakademie auf der Insel Korfu.

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Markus Gabriel denkt über das Denken nach

Was ist Denken? Diese Frage ist so alt wie die Philosophie und hat nichts von ihrer Bedeutung verloren. Markus Gabriel vertritt in seinem neuen Buch „Der Sinn des Denkens“ die These, dass sie im digitalen Zeitalter, in dem Denken oft gleichgesetzt wird mit Künstlicher Intelligenz (KI), aktueller und dringender denn je ist. Er lädt seine Leser dazu ein, über das Denken nachzudenken und erklärt, warum sich menschliches Denken niemals durch intelligente Maschinen ersetzen lässt. Dagegen dominiert im Zeitalter der Digitalisierung die Vorstellung, dass Künstliche Intelligenz denken könne. Diese Annahme verkennt allerdings, dass das menschliche Denken unüberwindbar an biologische Bedingungen gebunden ist und nicht als ein Vorgang der Datenverarbeitung verstanden werden darf. Seit 2009 hat Markus Gabriel den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne und ist dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

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Eltern wollen Erfolg und Glück für ihre Kinder

Wenn Eltern tiefe Liebe für ihre Kinder empfinden, wenn sie es gut mit ihnen meinen und keine verdrehten Vorstellungen von einer Eltern-Kind-Beziehung haben, gibt es zwei Möglichkeiten, wie sie in Zorn geraten können. Martha Nussbaum erläutert: „Die eine Möglichkeit ergibt sich aus einer stellvertretenden Investition ins eigene Ego: Das betreffende Elternteil sieht in dem Kind eine Erweiterung seiner selbst bzw. jemanden, die oder der die eigene Existenz fortsetzt. Ihm geht es darum, die eigenen Träume zu erfüllen.“ Die andere Möglichkeit ergibt sich aus der Sorge um das jetzige beziehungsweise künftige Wohl des Kindes. Beide Möglichkeiten überschneiden sich, weil Eltern häufig ein zentrales Interesse daran haben, dass ihr Kind erfolgreich und glücklich ist. Martha Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago. Sie ist eine der einflussreichsten Philosophinnen der Gegenwart.

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René Descartes verortet die Seele im Bewusstsein

Der lange Weg des Menschen zum Verständnis des Unbewussten hat ihn auf zahlreiche, wenn auch oft die Fantasie anregende Umwege geführt. John Bargh nennt ein Beispiel: „Im Mittelalter glaubte man, Leute, die sich seltsam verhielten, als beispielsweise mit sich selbst sprachen oder Visionen hatten, seien vom Teufel oder von einem bösen Geist besessen.“ Schließlich lehrte die Religion, dass der Mensch ein Ebenbild Gottes sei, und Gott lief nicht herum und plappert laut vor sich hin. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts verortete der Philosoph René Descartes die menschliche Seele – die übernatürliche, gottähnliche Seit des Menschen – im Bewusstsein. Prof. Dr. John Bargh ist Professor für Psychologie an der Yale University, wo er das Automaticity in Cognition, Motivation, and Evaluation (ACME) Laboratory leitet.

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