Dinge stabilisieren das menschliche Leben

Die terrane Ordnung, die Ordnung der Erde, besteht aus Dingen. Diese nehmen eine dauerhafte Form an und bilden eine stabile Umgebung für das Wohnen. Sie sind jene „Weltdinge“ im Sinne von Hannah Arendt, denen die Aufgabe zukommt, „menschliches Leben zu stabilisieren“. Byung-Chul Han stellt fest: „Sie geben ihm einen Halt. Die terrane Ordnung wird heute durch die digitale Ordnung abgelöst. Die digitale Ordnung entdinglicht die Welt, indem sie sie informatisiert.“ Schon vor Jahrzehnten bemerkte der Medientheoretiker Vilém Flusser: „Undingen dringen gegenwärtig von allen Seiten in unsere Umwelt, und sie verdrängen die Dinge. Man nennt diese Undinge Informationen.“ Die Menschen befinden sich heute im Übergang vom Zeitalter der Dinge zum Zeitalter der Undinge. Byung-Chul Han ist ein koreanisch-deutscher Philosoph, Kulturwissenschaftler und Autor. Seine Bücher wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.

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Immanuel Kant sucht eine widerspruchsfreie Welt

Immanuel Kant formulierte den kategorischen Imperativ: „Handle so, dass die Maxime deines Handelns Grundlage eines allgemeinen Gesetzes sein könnte.“ Der Philosoph glaubt damit ein moralisches Gesetz formuliert zu haben. Diesem müsse jedes vernünftige Wesen auf alle Zeiten entsprechen. Axel Braig erklärt: „Er war der Ansicht, durch sein Lebenswerk wieder eine zusammenhängende und widerspruchsfreie Weltsicht zu bieten. Diese gebe den Menschen klare Richtlinien für ihr Handeln.“ Immanuel Kant war überzeugt, dass die durch die kopernikanische Wende ausgelösten existenziellen Verunsicherungen mittels der Physik Isaac Newtons und seiner eigenen Philosophie befriedigt werden können. Doch dieser Friede währte nicht lange. Die allgemeine Relativitätstheorie Albert Einsteins relativierte die Physik Isaac Newtons. Axel Braig wandte sich nach Jahren als Orchestermusiker und Allgemeinarzt erst spät noch einem Philosophiestudium zu.

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Menschen sehnen sich nach einer Ordnung der Welt

Viele Menschen haben das Bedürfnis, eine große Ordnung der Welt anzunehmen, die als Erklärung für alles dienen kann. Dadurch machen sie die häufig verwirrende Vielfalt, die auf sie einstürzt, erträglicher. Freilich, die Art und Weise und der Inhalt dieser Welterklärungen unterscheiden sich, je nach geschichtlicher Situation, Kultur oder Individuum. Axel Braig stellt fest: „In religiösen Zusammenhängen spielen die Götter oder zumindest ein Gott bei der Erklärung des gesamten Kosmos eine wesentliche Rolle.“ Vor gut zweieinhalbtausend Jahren vertraten schon einige vorsokratische Philosophen jedoch eine andere Meinung. Sie vertraten die These, dass der menschliche Intellekt auch ohne göttliche Hilfe zu einer umfassenden Welterklärung in der Lage sei. Axel Braig wandte sich nach Jahren als Orchestermusiker und Allgemeinarzt erst spät noch einem Philosophiestudium zu.

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Der totalitäre Mensch ist radikal isoliert

Die Philosophin Hannah Arendt war eine der Ersten, die sich mit dem Totalitarismus auseinandersetzte. Sie beschrieb die „totalitäre Persönlichkeit“ als radikal isolierte Menschen, deren Bindung weder an die Familie noch an Freunde, Kameraden oder Bekannte einen gesicherten Platz in der Welt garantiert. Dass es überhaupt auf der Welt ist und in ihr einen Platz einnimmt, hängt für ein Mitglied der totalitären Bewegung ausschließlich von seiner Mitgliedschaft in der Partei und der Funktion ab, die sie ihm zugeschrieben hat. Anne Applebaum ergänzt: „Theodor W. Adorno, der vor den Nationalsozialisten in die USA geflohen war, vertiefte den Gedanken weiter. Unter dem Einfluss von Sigmund Freud suchte er die Ursprünge der autoritären Persönlichkeit in der frühen Jugend, etwa gar in unterdrückten homosexuellen Neigungen.“ Anne Applebaum ist Historikerin und Journalistin. Sie arbeitet als Senior Fellow an der School of Advanced International Studies der Johns Hopkins University.

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Es gibt nur eine Vernunft

Das hat bestimmt schon jeder einmal erlebt, dass trotz intensiven Austauschs der Argumente keine Einigung zu erzielen war. Reinhard K. Sprenger will auf einen Aspekt aufmerksam machen, den man in seiner Bedeutung für Konflikte noch gar nicht richtig begriffen hat. Die Menschen, die heute leben, sind aufgewachsen in einem gesellschaftlichen Klima, das Vernunft sehr groß schrieb. Die zudem überzeugt sind, dass es im Grunde nur eine Vernunft gäbe. Reinhard K. Sprenger weiß: „Das Hintergrundprogramm, gleichsam die Software dafür, hat der imperiale deutsche Philosoph Jürgen Habermas in den 1960er Jahren geschrieben.“ Dieses Programm geht davon aus, dass alle Menschen eine gemeinsame Sachlichkeit beanspruchen, innerhalb deren Argument und Gründe gelten. Reinhard K. Sprenger zählt zu den profiliertesten Managementberatern und wichtigsten Vordenkern der Wirtschaft in Deutschland.

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Die Dialektik lebe hoch

Patrick Eiden-Offe fordert: „Die Dialektik, sie lebe hoch – auch und gerade in finsteren Zeiten. Sie lebe hoch, nicht als ein Ordnungswissen. Sondern als eine Sichtweise, die jene Unordnung sichtbar macht, auf der sich jede Ordnung erhebt.“ Die Dialektik lebe hoch als Einübung in einen Blick, der selbst noch in den finstersten Machenschaften der Gegenwart die Komödie zu erblicken vermag. Und in der Komödie die nicht zu unterdrückende Tendenz jeder Ordnung zu erkennen, sich selbst zu entlarven. Wenn die Dialektik ein Weltprinzip ist, wie es die Hegelianer aller Zeiten immer wieder behauptet haben, dann muss sie nach Bertolt Brecht als „humoristisches Weltprinzip“ gelten. Nämlich als ein Weltprinzip davon, dass es kein Weltprinzip geben kann. Ja, es ist eine Komödie, auch und gerade, wenn es nichts zu lachen gibt. Patrick Eiden-Offe ist Literatur- und Kulturwissenschaftler.

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Platon verficht eine klare Ordnung des Diskurses

Das Theater setzt Gefühle frei und schafft sogar Momente der Empathie mit dem Abscheulichen. Es steuert, kommentiert, kontrolliert diese Gefühle, indem es mit ihnen artistisch jongliert. Jürgen Wertheimer stellt fest: „Wie alle wichtigen Spiele ist auch dieses ein sehr ernstes Spiel, wenngleich kein Spiel auf Leben und Tod. Stattdessen „nur“ eine Simulation – eine Simulation, in der es um Leben und Tod anderer geht.“ Aber genau deshalb konnte man in den Theatern Griechenlands gezielt Grenzen überschreiten. Schon damals nicht ohne den massiven Widerstand derer, die in einem solchen Spiel mit dem Feuer der Phantasie und der Emotionen Gefahren für die gesellschaftliche Ordnung sahen. Kein geringerer als Platon (428 – 348 v. u. Z.) war ein Verfechter einer klaren Ordnung des Diskurses. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

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Menschen brauchen Geschichten

Der Primatologe Frans de Waal beschreibt den unter Schimpansen stark ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und Fairness. Es ist also durchaus möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich, dass auch Homo sapiens über einen solchen angeborenen Sinn verfügt. Und es ist für Philipp Blom denkbar, dass hier der Beginn des Erzählens liegt: „Menschen brauchen Geschichten, denn statt Sinn und Ordnung bietet die erlebte Realität immer wieder Chaos und Ungerechtigkeit.“ Immer wieder werden Wünsche enttäuscht, überall entsteht unnötiges Leid, die wenigsten Menschen erfahren Gerechtigkeit. Dadurch entsteht das menschliche Bedürfnis nach einem Gegenentwurf zu diesem ambivalenten Erleben in der Sinnlosigkeit. Geschichten schaffen Handlung und Struktur, Sinn und Zweck, Tugend und Laster, Lohn und Strafe. Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford.

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Die Bürger der Polis lenken ihre Geschicke selbst

Am Ende des hellenistischen Mittelalters sprach man zum ersten Mal von der Stadt, der Polis. Dabei handelte es sich um eine autonomen Einheit, die ihre eigenen Geschicke lenkte. An ihren Entscheidungen waren oft alle Bürger in freien Diskussionen direkt beteiligt. Die politische Struktur dieser Poleis war extrem variabel und komplex. Es gab Monarchien, Aristokratien, Tyranneien, Demokratien, wettstreitende politische Parteien und Verfassungen. Eine davon war die Verfassung von Solon, die zuerst formuliert und dann wieder umgeschrieben wurden. Carlo Rovelli ergänzt: „Es wird experimentiert: Verschiedene Wege, die kommunale Struktur zu organisieren und zu leiten, werden ausprobiert und wieder verworfen.“ Die griechischen Poleis waren Stätten, wo eine breite Klasse von Bürgern miteinander diskutierten. Sie berieten darüber, wie man die Macht verteilen soll und wie sich Probleme am besten lösen lassen. Seit dem Jahr 2000 ist Carlo Rovelli Professor für Physik an der Universität Marseille.

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Kevin Dutton plädiert für eine Welt der Grautöne

Kevin Dutton legt in seinem neuen Buch „Schwarz. Weiß. Denken!“ die evolutionären und kognitionspsychologischen Grundlagen des menschlichen binären Denkens dar. Außerdem zeigt er, wie man den Grautönen wieder zu ihrem Recht verhelfen kann. Kevin Dutton ist sich sicher: „Wenn wir uns unserer Anlagen bewusst werden, können wir künftig nuanciertere und klügere Entscheidungen treffen.“ Der Autor gibt seinen Lesern hervorragende Hilfsmittel an die Hand, die sie vor Beeinflussung schützen und ihnen dabei helfen, selbst überzeugender aufzutreten. Kevin Dutton weist darauf hin, dass das Schwarz-Weiß-Denken unübersehbare gefährliche Folgen hat. Die Unterschiede zwischen gegensätzlichen Meinung vergrößern sich. Zudem gedeihen der Populismus, der Extremismus und der Rassismus in nicht für möglich gehaltener Stärke. Die Fähigkeit der Menschen zu rationalem Denken beginnt zu schwinden. Kevin Dutton ist Forschungspsychologe an der University of Oxford und Mitglied der British Psychological Society.

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Die Bedeutung der Mythen ist bis heute nicht geklärt

Sigmund Freud war der Überzeugung, alle Mythen der Welt bärgen in sich den Gemeinschlüssel zum Verständnis der menschlichen „psychosexuellen Entwicklung“. Dazu zählte er auch die biblische Erzählung von Adam und Eva. Dagegen vertrat Gustav Jung die These, Mythen seinen nichts weniger als die destillierte Essenz des „kollektiven Unbewussten“ der Menschheit. Und für Claude Lévi-Strauss bildeten die gesamten Mythologien der Welt zusammengenommen ein großes und unübersichtliches Rätselbild. Dieses würde die „Tiefenstrukturen“ der menschlichen Psyche offenbaren, wenn es sich richtig entschlüsseln ließe. Die Bedeutung der Mythen und Mythologien ist bis heute nicht vollständig geklärt. Aber James Suzman weiß: „Ganz sicher offenbaren sie uns jedoch Einsichten in einige universelle Aspekte der menschlichen Erfahrung.“ James Suzman ist Sozialanthropologe und Autor des Buches „Wohlstand ohne Überfluss“, in dem er die Gesellschaften der Jäger und Sammler als erste Wohlstandsgesellschaften porträtierte.

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Demokratie und Toleranz gehören zusammen

Der Staatsmann Perikles lobt im 5. Jahrhundert v. Chr. die Form der Demokratie als eine Institution, die den Bürgern Freiheit schenkt. Das aber verlangt auch Toleranz des Bürgers gegenüber seinen Mitbürgern. Der Begriff „Toleranz“ ist eine Prägung der neuzeitlichen Aufklärung im Gegenzug zu den neuzeitlichen Religionskriegen. Es ist ja der Monotheismus mit seinen jeweils verabsolutierenden Religionsauffassungen, welcher die furchtbarsten Religionskriege auslöste und immer noch auslöst. Silvio Vietta nennt Beispiele: „So den Dreißigjährigen Krieg zwischen Katholiken und Protestanten im Europa des 17. Jahrhunderts. Und eben auch die heutigen Bruderkriege zwischen Schiiten und Sunniten.“ Gemeint ist mit Toleranz eine Haltung der Offenheit und auch des Respekts gegenüber Bürgern mit anderer Weltanschauung. Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt.

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Die Liebe ist für Max Scheler ein Urakt

Max Scheler vertritt eine Aktphänomenologie, für die das Fühlen als intentionaler Akt eine zentrale Rolle einnimmt. So etwa beim Erfühlen von Werten in seiner bekannten Schrift „Der Formalismus in der Ethik und die materielle Wertethik“. Mit welcher er sich nicht nur gegen die kantische Pflichtethik wendete. Sondern mit der er auch die Grundlegung einer bis heute einflussreichen Position der Wertethik vorlegte. Es verwundert daher nicht, dass in einer Theorie, die das Fühlen derart aufwertet, auch der Liebe eine wichtige Rolle zugeschrieben wird. Max Scheler postuliert einen Primat des Emotionalen im geistigen Geschehen. Dabei versteht er die Liebe als den „Urakt“ menschlicher Geistestätigkeit. Er geht hier von einem christlichen Liebesgedanken aus, wobei er stark an augustinische Gedanken anknüpft. Max Scheler (1874–1928) war ein deutscher Philosoph, Psychologe, Soziologe und Anthropologe.

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Am Anfang war die Schönheit

Nichts ist für den Philosophen Konrad Paul Liessmann so verführerisch wie die Verführung: „Das Lockende und Verlockende, die Andeutungen und Versprechungen, die Eröffnung von bisher ungeahnten Möglichkeiten, das Verlassen eines sicheren Bodens, das Umgehen des Gewohnten, das Faszinosum des Neuen: Wer wollte dem widerstehen?“ Im Paradies muss es schön gewesen sein, so war es wohl. Am Anfang war die Schönheit, aber diese führte zu Wut, Trauer und Neid. Und der Schöpfer des Menschen ähnelte weniger einem Gott in seiner Machtvollkommenheit als einem Bastler. Dieser probiert einiges aus, um bei einem Produkt zu landen, das er nach kurzer Zeit wieder entsorgen muss. Die Erzählung vom Paradies ist von Anbeginn an eine Geschichte des Aufbegehrens und der Vertreibungen. Die Schöpfung in ihrer Schönheit provoziert den Widerstand desjenigen, dessen Licht diese Schönheit sichtbar macht, ohne selbst daran Anteil nehmen zu können.

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Ohne Vielfalt gibt es keine Alternativen

Vielfalt ist eine Bereicherung von Freiheit. Wenn es keine Vielfalt gäbe, hätten die Menschen keine Alternativen, zwischen denen sie wählen könnten. Doch das Leben mit einer solchen Vielfalt der Unterschiede hat auch seine Schwierigkeiten. Denn viele wollen vielleicht gerne wieder mehr „unter ihresgleichen“ leben. Das Problem ist nichts Neues. Die Kombination von Massenmigration und Internet hat zu einer atemberaubenden Zunahme der sichtbaren Vielfalt, sowohl materiell auf den Straßen der Weltstädte als auch virtuell auf den Seiten des Internets, geführt. Timothy Garton Ash ergänzt: „Wie nicht anders zu erwarten, geht es in einigen der heftigsten Konflikte um die Meinungsfreiheit um die Frage, wie Menschen sich in Bezug auf solche Unterschiede ausdrücken.“ Timothy Garton Ash ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University.

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Autorität gibt der Gesellschaft eine Struktur

Wer Macht hat, hat das Sagen. Diese Verbindung spiegelt sich laut Philipp Hübl in den Metaphern wider, mit denen man über Macht spricht. Wer „gehorcht“, der hört auf jemanden. Und wem etwas „gehört“, der hat Verfügungsgewalt darüber. Die etymologische und inhaltliche Nähe zwischen hören, gehören und gehorchen findet sich in vielen indogermanischen Sprachen. Nur wenn jemand Ansagen macht, hat eine arbeitsteilige Gruppe oder Gesellschaft eine Struktur. Genau das regelt das Prinzip der Autorität. Schon John Stuart Mill hat im Jahr 1859 festgestellt, dass neben Fortschritt auch Ordnung und Stabilität Grundbedürfnisse des Menschen sind. Mill zählte zu den Gründervätern des Liberalismus. Philipp Hübl ist Philosoph und Autor des Bestsellers „Folge dem weißen Kaninchen … in die Welt der Philosophie“ (2012).

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Die Vernunft gibt der Welt eine begriffliche Ordnung

Viele Menschen begreifen die Vernunft als die Fähigkeit, den Dingen und Vorgängen in der Welt eine begriffliche Ordnung zu geben. Als Vernunft gilt mit Recht, was den Menschen in die Lage versetzt, systematische Relationen zwischen seinen Einsichten herzustellen. Sie erlauben es ihm, regelgeleitet mit ihnen umzugehen. So kann er beispielsweise Einheiten, Verbindungen und Beziehungen erschließen. Diese erscheinen ihm in der Abfolge vieler Jahre enger miteinander verbunden, weshalb er sie als Epoche bezeichnen kann. Oder er kann die schier unendliche Reihe von gewesenen und kommenden Jahren als „Zeit“ begreifen. Volker Gerhard ergänzt: „Auch >Menschheit< ist ein Vernunftbegriff, ja sogar der Begriff des >Menschen< gehört dazu, wenn wir ihn als Exempel der Menschheit verstehen.“ Volker Gerhardt war bis zu seiner Emeritierung 2014 Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin.

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Unvorhersagbarkeit ist potenziell gefährlich

Viele Menschen haben Angst vor der Dunkelheit, da sie nicht wissen, was sich in ihr verbirgt. Julia Shaw weiß: „Es ist das Unvorhersehbare, vor dem wir uns fürchten. Bei Menschen, die anders denken als wir, fragen wir uns, was sie als nächstes tun werden. Wir können ihre Gedanken und erst recht ihre Denkweise nicht verstehen.“ Die meisten Menschen mögen diese Art von Unvorhersagbarkeit nicht. Ordnung und Kontrolle vermitteln ein Gefühl der Sicherheit. Unvorhersagbarkeit ist potenziell gefährlich. Dass viele Menschen psychische Erkrankungen stigmatisieren, ist nichts Neues, doch es ist ein hartnäckiges, verheerendes Vorurteil. Eine der auffälligsten Verhaltensweisen, die sie gegenüber psychisch Kranken an den Tag legen, ist, Abstand zu ihnen zu wahren: sowohl sozial als auch psychisch. Julia Shaw forscht am University College London im Bereich der Rechtspsychologie, Erinnerung und Künstlicher Intelligenz.

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Alle Lebewesen müssen möglichst sparsam mit ihrer Energie umgehen

Es klingt auf den ersten Blick ziemlich weit hergeholt, aber indem die Menschen eine Vorstellung von einem würdevollen Leben entwickeln und sie zur Grundlage der Gestaltung ihres Lebens und der Steuerung ihres Verhaltens machen, folgen sie eigentlich nur den Gesetzmäßigkeiten, die sich aus dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik ergeben. Gerald Hüther erläutert: „Der besagt, dass alle natürlichen Prozesse auf die gleichmäßige Verteilung von Energie ausgerichtet sind. Alle Lebewesen müssen deshalb über die Fähigkeit verfügen, eine innere Ordnung aufzubauen, die dieser Tendenz entgegenwirkt.“ Je besser ihnen das gelingt, desto wahrscheinlicher wird ihre Überlebensfähigkeit. Je weniger Energie sie für die Aufrechterhaltung ihrer inneren Ordnung verbrauchen, desto besser sind sie in der Lage, ihrer eigenen Auflösung zu widerstehen. Gerald Hüther zählt zu den bekanntesten Hirnforschern in Deutschland.

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Das künstliche Selbst verbirgt die Persönlichkeit

Wo das eigene Selbstbild – die Vorstellung, die ein Mensch von sich selbst macht – von Selbsterleben ergänzt wird – ist die Herrschaft der inneren Bilder auf gesunde Weise gebrochen. Georg Milzner erläutert: „Wir entwerfen Bilder von dem, was wir sein möchten oder zu erreichen anstreben, fühlen uns aber auch in dem, was wird jetzt sind.“ Nicht immer werden die eigenen Bilder von anderen geteilt. Dann kommt es zu einem Konflikt, und man erlebt Spannungen, in deren Bewältigung sich die wachsende Psyche stärkt und bewährt. Im besten Fall wird dabei die Selbstwahrnehmung schärfer, und die Fähigkeit sich selbst auszubalancieren, nimmt zu. Denn normalerweise bildet sich ein Mensch ja nicht nur innerlich ab, er handelt und fühlt und bekommt Rückmeldungen. Georg Milzner ist Diplompsychologe und arbeitet in eigener Praxis als Psychotherapeut.

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Beim Ich könnte es sich um eine Illusion handeln

„Das Ich“ ist ein ominöser Begriff, der heute neben „dem Selbst“ vage als Name für die Schaltzentrale des Denkens, Fühlens und Wollens verwendet wird. Neurozentriker argumentieren üblicherweise dafür, dass es kein Ich oder Selbst gibt, da es sich im Gehirn nicht nachweisen lässt. Markus Gabriel erklärt: „Es ist völlig richtig, dass das Ich oder das Selbst kein Ding unter Dingen ist. Es existiert nicht in derselben Ordnung der Dinge neben Ratten, Katzen oder Matratzen. Wer dies meint, täuscht sich in der Tat.“ Es ist nämlich die Philosophie, den Ichbegriff entwickelt hat. Dass es sich beim Ich um eine Illusion handeln könnte, ist ein alter Verdacht, für den prominent Buddha, David Hume und Friedrich Nietzsche stehen. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne und ist dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

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Deutschsein hat etwas mit Herkunft und Tradition zu tun

Deutschsein ist mehr als nur formelle Staatsbürgerschaft. Sogar Anhänger der Grünen sind offensichtlich mehrheitlich der Meinung, es gebe so etwas wie einen Nationalcharakter. Christian Schüle fügt hinzu: „Der Begriff Nationalcharakter hat als vermeintlich veraltetes Konzept keinesfalls ausgedient und wird mitnichten von der nachwachsenden Generation als überwunden erachtet.“ Drei Viertel der Deutschen finden, dass deutsche Kultur „Leitkultur“ für die in Deutschland lebenden Ausländer sein sollte; und gut die Hälfte der Deutschen meint, dass Deutschsein mit Herkunft und Tradition zu tun habe. Das heißt: Politik muss sich an der Wirklichkeit orientieren, und dazu gehört, dass mindestens eine relative Mehrheit der Bevölkerung ihre eigene Nationalität auch über eine in Jahrhunderten gewachsene Kulturtradition und eine gemeinsame Herkunft definiert. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Ein wohlwollendes Betrachten des eigenen Selbst führt zu Gelassenheit

Der römische Philosoph Seneca verfasste ein Traktat zur Gelassenheit, mit der er auf die überaus aktuell klingenden Sorgen seines Freundes Serenus antwortete – ein Zeitgenosse, der auf der Suche nach dem guten Leben aus seiner Rastlosigkeit keinen Weg zur inneren Ruhe erkennen konnte und dabei sehr an modere Suchende erinnert. Ina Schmidt erläutert: „Serenus beklagt eine innere Unruhe, die ihm zwar keine existenzielle Not verursache, aber doch eine nagende Unzufriedenheit und das Gefühl, das eigene Leben nicht richtig anzugehen.“ Nicht, dass er nicht schon verschiedenste Möglichkeiten ausprobiert habe – seine Versuche von der materiellen Askese über innere Einkehr bis zu sozialem Engagement hätten die innere Unruhe aber nur noch gesteigert. Ina Schmidt gründete 2005 die „denkraeume“, eine Initiative, in der sie in Vorträgen, Workshops und Seminaren philosophische Themen und Begriffe für die heutige Lebenswelt verständlich macht.

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Stephan Lessenich begibt sich auf die Spur des pätmodernen Kapitalismus

Mitte der 1970er Jahre veröffentlichte der amerikanische Soziologe Daniel Bell unter dem Titel „The Cultural Contradictions of Capitalism“ eine zeitdiagnostische Streitschrift zum Zustand der US-Gesellschaft. Stephan Lessenich erläutert: „Wenn man so will, dann sah Daniel Bell die USA seiner Zeit von einer Art nicht spätrömischer, sondern spätmoderner Dekadenz ergriffen, deren Wurzeln er in der systematischen – oder genauer: normativen – Entkopplung von Kultur und Ökonomie verortete.“ Durch die Entstehung und gesellschaftliche Verbreitung einer „postmaterialistischen“ Kultur, so Daniel Bells Kernaussage, werde die Funktionsfähigkeit der kapitalistischen Ökonomie systematisch unterminiert. Dabei sei es der der durch die lange Phase wirtschaftlicher Prosperität der Nachkriegszeit gewissermaßen selbst induzierte Verlust des die kapitalistische Wirtschaft seit ihren Anfängen durchdringenden und tragenden „Geistes“, der die stabile Reproduktion der industriekapitalistischen Gesellschaftsformation und ihrer Sozial- beziehungsweise Klassenstruktur grundlegend in Frage stellte. Dr. Stephan Lessenich ist Professor am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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Das Gehirn benötigt bei Problemen extrem viel Energie

Wenn das Durcheinander in einer Gesellschaft und in den Köpfen der Menschen immer größer wird, hält das irgendwann auch das beste Gehirn nicht aus. Schon im Ruhezustand, also immer dann, wenn man flach auf dem Rücken liegt und gar nichts denkt, saugt das Gehirn etwa 20 Prozent der vom Körper bereitgestellten Energie in Form von Glukose weg. Gerald Hüther fügt hinzu: „Sobald wir die Augen öffnen, zu denken anfangen oder gar ein Problem haben, steigt dieser Energiebedarf massiv an.“ Und wenn es womöglich gar viele Probleme sind, die sich kaum noch lösen lassen, bricht die normalerweise im Gehirn herrschende Ordnung schnell zusammen. Dann funkt dort alles kreuz und quer, und der Energieverbrauch steigt so stark an, dass das nun auch im Körper als unangenehmes Gefühl spürbar wird. Gerald Hüther zählt zu den bekanntesten Hirnforschern in Deutschland.

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