Der Lebensschwung beansprucht Dynamik

Das Titelthema des neuen Philosophie Magazin 05/2023 beschäftigt sich diesmal mit der Frage: „Woher kommt der Lebensschwung?“ Wodurch die Existenz ins Schwingen gebracht wird, ist ganz unterschiedlich. Das kann eine Berührung sein oder eine Begegnung mit einem Menschen. Für Chefredakteurin Svenja Flaßpöhler ist jedoch eines ganz grundsätzlich klar: „Das Ja zum Leben – die Lebendigkeit – muss mit einem Mehr, mit einem Überschuss zu tun haben. Mit Momenten, die nicht einfach dem biologischen Lebenserhalt dienen, sondern den Sinn der Existenz unmittelbar fühlbar machen.“ Während der Lebensschwung Dynamik beansprucht, ist ein Dasein, das sich in Arbeit und Pflichterfüllung erschöpft, starr. Heutzutage stehen sich zwei Existenzformen diametral gegenüber: Auf der einen Seite die Pflicht, auf der anderen Seite die Lust. Der Lebensschwung weist auf einen dritten gangbaren Weg hin. Regel und Freiheit, Pflicht und Lust sind in ihm dialektisch verschränkt zu einer ganz anderen Existenzweise.

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Personalität ist ein eingeübtes Rollenspiel

Zwischen Personalität und Individualität besteht ein Unterschied. Personalität ist ein eingeübtes, von Situation zu Situation variables Rollenspiel. Menschen erstreiten damit strategische Vorteile im sozialen Wettbewerb oder erhalten sie aufrecht. Dazu gehört für Markus Gabriel so scheinbar Unproblematisches wie die menschliche Fähigkeit, körperlich unversehrt durch den Alltag zu gelangen. Dennoch ist auch die Alltagswirklichkeit dauernd vom Ausbruch von Gewalt bedroht. Man denke nur an die alltäglichen Einbrüche, Taschendiebe und brutalen U-Bahn-Schubsern. Individualität dagegen ergibt sich aus dem schieren Umstand, dass jeder Mensch unvertretbar er selber ist. Martin Heidegger nannte dies mit einem seiner unzähligen Neologismen auf Neudeutsch „Jemeinigkeit“. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

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Alle Lust will Ewigkeit

Für Friedrich Nietzsche will die Lust Ewigkeit, aber er meint damit nicht die Ewigkeit eines metaphysischen Elysiums. Sondern es ist die Ruhe, Stille, das glatte Meer und die Erlösung von sich durch die Kunst und die Erkenntnis suchen. Oder es kann auch der Rausch, der Krampf, die Betäubung sowie der Wahnsinn sein. Ger Groot stellt fest: „Es geht Friedrich Nietzsche also nicht um einen „romantischen“, sondern um einen „dionysischen“ Pessimismus, wie er ihn schon in „Die fröhliche Wissenschaft“ beschrieben hat.“ Er verfolgt dabei die Erkenntnis, die in den dionysischen Origen und später in der Tragödie zum Ausdruck kommt und der zufolge Leben, Lust und Leiden zusammengehören. Ger Groot lehrt Kulturphilosophie und philosophische Anthropologie an der Erasmus-Universität Rotterdam. Zudem ist er Professor für Philosophie und Literatur an der Radboud Universität Nijmegen.

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Gelegenheitssex ist eine abstrakte soziale Form

Für Eva Illouz ist Gelegenheitssex eine abstrakte soziale Form, die nicht an menschliche Besonderheit ausgerichtet ist. Mehr noch, er entkleidet andere ihrer Einzigartigkeit. Dadurch schaltet er das aus, was der französische Soziologe Luc Boltanski als Prozess der Singularisierung bezeichnet hat. Dieser stellt für ihn einen wesentlichen Aspekt von Sozialität dar. Die sexuelle Lust, die sexuelle Wahlfreiheit, das Sammeln von sexueller Erfahrung durch zahlreiche Partner haben die heterosexuelle Begegnung grundlegend verändert. Und damit zugleich auch die Wege, auf denen man stabile emotionale und kulturelle Rahmen herausbildet und aufrechterhält. Der traditionelle heteronormative Geschlechtsverkehr verfolgte dagegen einen Zweck. Eva Illouz ist Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität von Jerusalem. Außerdem ist sie Studiendirektorin am Centre européen de sociologie et de science politique de la Sorbonne.

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Seelische Ausgeglichenheit führt zum Glück

Epikur sieht das höchste für den Menschen erreichbare Glück in der Lust, das größte Übel im Schmerz. Paul Kirchhof erklärt: „Lust meint dabei nicht Ungehemmtheit, nicht Prassen und Völlerei, sondern Schmerzlosigkeit, den Zustand vollkommener seelischer Ausgeglichenheit.“ Diese wird nicht in der Abgeschiedenheit, sondern in der Gemeinschaft des philosophischen Gesprächs erreicht. Epikur schreibt: „Philosophie ist die Tätigkeit, die durch Argumentation und Diskussion das glückselige Leben schafft.“ Der Gelassene führt ein maßvolles, asketisches Leben mit Freunden und gewinnt so Geborgenheit und Sicherheit sowie innere Ruhe. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg. Als Richter des Bundesverfassungsgerichts hat er an zahlreichen, für die Entwicklung der Rechtskultur der Bundesrepublik Deutschland wesentlichen Entscheidungen mitgewirkt.

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Besser leben heißt gesünder leben

Urbane Stileliten flüchten in unverdächtige Luxusformen wie hochpreisige Fahrräder und Nahrungsmittel aus dem Biomarkt. Ulf Poschardt stellt fest: „Beide Konsumfelder funktionieren auch als scharfe Distinktion gegen unakademische Aufsteiger, Neureiche und gegen den einfachen Plebejer, der seinen winzigen koreanischen SUV abstottert.“ Besser leben heißt seit der Antike gesünder leben. Askese als Lustgewinn bedeutet, anzuknüpfen an die Ethik der Antike, die bereits das maßvolle Leben als Garanten für Glück und Harmonie entdeckte. In den Klöstern waren schon vor Jahrhunderten alle Prinzipien nachhaltiger Entwicklung grundgelegt. Ob es nun um das Maßhalten geht mit einer Reduktion des Lebenstempos und der Anzahl von Erlebnissen. Oder ob es sich um die Regionalisierung handelt, die auf exotische und Ressourcen vergeudende Lebensmittel und Produkte verzichtet. Seit 2016 ist Ulf Poschardt Chefredakteur der „Welt-Gruppe“ (Die Welt, Welt am Sonntag, Welt TV).

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Das Mitternachtslied übt eine enorme Sogkraft aus

Konrad Paul Liessmann holt in seinem Buch „Alle Lust will Ewigkeit“ die zentralen Fragen aus Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ in die Gegenwart. Der deutsche Philosoph verfasste das vierteilige Werk zwischen 1882 und 1885. Die Figur des Zarathustra erscheint nicht nur als Verkünder großer Wahrheiten. Sondern sie agiert auch als Philosoph, der sich radikal einer skeptischen Selbstvergewisserung aussetzt. Zarathustras zentrale Erkenntnisse sind seine Lehren vom Übermenschen und von der ewigen Wiederkunft des Gleichen. Sie stoßen allerdings bei den Menschen auf taube Ohren. Konrad Paul Liessmann widmet jeder Zeile des „Mitternachtsliedes“ ein Kapitel. Dabei überlässt er sich der Sogkraft dieser Verse, die gerade in ihrer Schlichtheit raffiniert, in ihrer Redundanz unvergleichlich und in ihrer Zerbrechlichkeit voller Kraft sind. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Philosophie an der Universität Wien. Zudem arbeitet er als Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist. Im Zsolnay-Verlag gibt er die Reihe „Philosophicum Lech“ heraus.

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Zarathustra lehrt den Übermenschen

Gegen die „Dekadenz“ richtet sich die Verkündigung von Friedrich Nietzsches Zarathustra. Sie nimmt schon zu Anfang des Buches, in Zarathustras Vorrede, die Form einer Reihe von Seligsprechungen an. Dies kann man wiederum nicht zufällig als eine Parodie auf die biblische Bergpredigt verstehen. Ger Groot erklärt: „Seliggesprochen werden nicht nur jene, die das Leben bis zur Neige auskosten. Sondern auch jene, die die herrschende Moral verwerfen.“ Dazu zählen beispielsweise die großen Verächter, wie Friedrich Nietzsche sie nannte. Das sind diejenigen, die sagen: „Was ist mir an Gerechtigkeit, an Mitleid und Tugend gelegen?“ Zarathustra spricht: „Seht, ich lehre euch den Übermenschen: der ist dies Meer, in ihm kann eure große Verachtung untergehen.“ Ger Groot lehrt Kulturphilosophie und philosophische Anthropologie an der Erasmus-Universität Rotterdam. Zudem ist er Professor für Philosophie und Literatur an der Radboud Universität Nijmegen.

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Adalbert Stifter will nicht Tugend oder Sitte predigen

In einer Vorrede zu den sechs Erzählungen, denen er nach mehrfacher Umarbeitung schließlich den programmatisch gemeinten Obertitel „Bunte Steine“ gab, erläutert Adalbert Stifter (1805 – 1869) seine literarischen Absichten und einige Grundsätze seiner Weltanschauung auf wenigen Seiten. Diese sind in Aufbau und einfacher, aber einprägsamer Gedankenführung kaum zu überbieten. Ausgehend von einer dreifachen Verneinung. Er sei kein Künstler (Dichter). Er wolle nicht Tugend oder Sitte predigen und er habe weder „Großes“ noch „Kleines“ als Ziel. Damit will Adalbert Stifter sich und seine Freunde abgrenzen gegen die alles zersetzende Außenwelt. Denn, so sagt er, er wolle nur „Geselligkeit unter Freunden“ und ein Körnchen Gutes zum Bau der Welt beitragen – und natürlich wolle er auch vor falschen Propheten schützen. Erst nach dieser fast familiären Erklärung greift Adalbert Stifter weiter aus und erläutert, was er mit dem Großen und dem Kleinen meint.

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Der Wille ist innig mit „Leib und Seele“ verknüpft

Die für den Menschen spezifische, personale Freiheit besteht in einer Urheberschaft, die selbstanerkannten Gründen folgt. Otfried Höffe erläutert: „Weil Gründe zählen, ist eine Verantwortung im wörtlichen Sinn gegeben. Nämlich die Möglichkeit, Rede und Antwort zu stehen. Und weil es auf Gründe ankommt, spricht die Philosophie von Vernunft, weil auf handlungsleitende Gründe, von praktischer Vernunft.“ Drei Bedingungen werden dabei erfüllt. Bei selbstanerkannten Gründen wird das Tun oder Lassen nicht von außen erzwungen. Es geschieht frei, im Sinne negativer Freiheit. Darüber hinaus, weil beabsichtigt, auch im Sinne positiver Freiheit. Schließlich erfolgt die Absicht aus dem „Inneren“, aus den Gründen, die man sich zu eigen gemacht hat. Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und lehrte in Fribourg, Zürich und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.

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Antonio Damasio offenbart die Geselligkeit der Triebe

Der Apparat der Triebe, Motivationen und Emotionen beschäftigt sich mit dem Wohlergehen des menschlichen Organismus, in dem die Reaktionen ablaufen. Die meisten von ihnen sind von ihrem Wesen her in größerem oder kleinerem Maßstab sozial. Ihr Einflussbereich erstreckt sich weit über das Individuum hinaus. Antonio Damasio erklärt: „Begehren und Lust, Fürsorge und Ernährung, Zuneigung und Liebe wirken im sozialen Zusammenhang. Das gleiche gilt für die meisten Fälle von Freude und Traurigkeit, Furcht und Panik oder Wut. Aber auch für Mitgefühl, Bewunderung und Staunen, für Neid, Eifersucht und Verachtung.“ Die kraftvolle soziale Ausrichtung war für den Intellekt des Homo sapiens eine unentbehrliche Stütze. Antonio Damasio ist Professor für Neurowissenschaften, Neurologie und Psychologie an der University of Southern California und Direktor des dortigen Brain and Creative Institute.

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Epikur stellt die Lust ins Zentrum seiner Werte

Nicht alle, die sich an ihren Bedürfnissen orientieren, sind unbarmherzige Asketen. Der genügsame Genießer schränkt sich nur ein, um seine Bedürfnisse leicht und häufig erfüllen zu können und damit zwar unabhängig zu bleiben, aber gleichzeitig ein Maximum an Angenehmen zu erfahren. Mit dieser Strategie erhofft er sich Autarkie und Genuss in Einklang zu bringen. Als Aushängeschild dieser Art des Hedonismus nett Ludger Pfeil den Griechen Epikur (341 – 271 v. Chr.), der im Jahr 306 v. Chr. in Athen seine „Schule des Gartens“ als philosophische Lehranstalt und Lebensgemeinschaft gründetet. Ludger Pfeil erklärt: „In dem von ihm erhaltenen Schriften stellt er die Lust uneingeschränkt ins Zentrum seiner Werte und beruft sich dabei auf unsere Natur.“ Der Philosoph Dr. Ludger Pfeil machte nach seinem Studium Karriere in der Wirtschaft als Projektleiter und Führungskraft und ist als Managementberater tätig.

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Sex braucht weder Sünde noch Scham

Nur wenige kulturelle Projekte waren so total wie das der sexuellen Befreiung. Es befreite den Geschlechtsverkehr von Sünde und Scham. Und es verwandelte die Sexualität unter tätiger Mithilfe der Psychologen in ein Synonym für emotionale Gesundheit und Wohlbefinden. Eva Illouz ergänzt: „Zugleich war es ein Projekt, das darauf abzielte, Frauen und Männer, Heterosexuelle und Homosexuelle gleichzustellen. Damit war es auch ein wesentlich politisches Projekt.“ Die sexuelle Befreiung legitimierte darüber hinaus die sexuelle Lust als Selbstzweck. Zugleich nährte sie damit die Vorstellung von hedonistischen Rechten. Dabei handelt es sich um jenes diffuse kulturelle Gefühl, das Individuen einen Anspruch auf sexuelle Lust haben, um ein gutes Leben zu verwirklichen. Eva Illouz ist Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität von Jerusalem. Außerdem ist sie Studiendirektorin am Centre européen de sociologie et de science politique de la Sorbonne.

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Tätige Freiheit ist keine Faulheit

Wer auf die antike Tradition zurückblickt, kann unter anderem folgendes erkennen: Die klassische „Oase“, das, was als das höchst Anstrebenswerte galt, war, von jeglicher Arbeit frei zu sein, um „Muße“ zu haben. Diese benötigte man für die wirklich wichtigen Dinge wie Philosophie, Politik und Kunst. Dazu braucht man zuerst einmal Freiheit vom Werk, von der Arbeit und vom Dauerstress. Sophie Loidolt ergänzt: „Erst dadurch öffnen sich die anderen Tätigkeitsräume des Betrachtens und des Erscheinens vor und mit anderen.“ Diese hervorgebrachte tätige Freiheit „zu“ ist daher keine Faulheit. Sie ist nur eine andere Form des Tätigseins als Arbeiten. Wer heutzutage Muße hat, wird leicht als dumpfer, aber keineswegs aufsässiger Typ angesehen. Prof. Dr. Sophie Loidolt ist Gastprofessorin am Philosophieinstitut der Universität Kassel und Mitglied der „Jungen Akademie“ der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

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Die Ökonomie ist der Schlüssel zur Welt

Faulheit ist seit jeher ein Laster. Sie ist nicht gottgefällig, auch nicht vernunftgefällig, sondern eine Verschwendung der Talente. Doch nicht nur die Mönche und Protestanten beten und arbeiten. Auch für den Weltmenschen Johann Wolfgang von Goethe steht am Anfang die Tat. Und selbst Oblomows treuer Freund Stolz ein „Deutscher“ natürlich, sieht in der Arbeit den Sinn des Lebens. Sophie Loidolt stellt sich in diesem Zusammenhang folgende Frage: „Doch was heißt das eigentlich: Arbeit, Tat, tätig sein. Um darauf eine Antwort zu finden, beschäftigt sie sich mit einer von Hannah Arendts Grundfragen. In ihrem philosophischen Hauptwerk stellt sie die Frage: „Was tun wir, wenn wir tätig sind?“ Prof. Dr. Sophie Loidolt ist Gastprofessorin am Philosophieinstitut der Universität Kassel und Mitglied der „Jungen Akademie“ der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

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Otfried Höffe kennt die sechs Stufen der Freiheit

Um sich den Bedeutungsraum der personalen Freiheit zu vergegenwärtigen, kann man sechs Bedeutungen unterscheiden, die, weil sie aufeinander aufbauen, Stufen der Freiheit heißen mögen. Otfried Höffe erläutert: „Weil die ersten drei für den Menschen nicht spezifisch sind, liegt schlichte Freiheit, noch keine personale Freiheit vor. Ihr gegenüber handelt es sich um Vorstufen. Erst bei den nächsten drei Stufen, den Hauptstufen geht es um die personale Freiheit selbst.“ Man mag sich fragen, warum die Überlegungen so weit ausholen. Drei Gründe sprechen für den Beginn bei den Vorstufen. Zum einen vermeidet man eine voreilige Anthropozentrik, denn selbst der Ausdruck, der den Menschen aus der Natur herauszuheben scheint, die Freiheit, bleibt für die naturale Seite des Menschen offen. Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und lehrte in Fribourg, Zürich und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.

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Die Religion ist der gefährlichste Feind des freien Denkens

Die unstillbare Sehnsucht nach Reinheit, gefährlichste Feindin freien Denkens, ist die Obsession des Religiösen zu allen Zeiten in allen Kulturen – schon deshalb, weil Religion gewöhnlich auf Absolutes, Immaterielles und damit eben auch Reines zielt. In Krisenzeiten wird der Wunsch nach Reinheit besonders drängend. Bernd Roeck stellt fest: „Gereinigt durch die Taufe beginnen Christinnen und Christen ihr Leben; durch Buße reinigen sie sich im Inneren. Sich Gott zu nähern verlangt Reinheit, vom Priester wie vom Gläubigen. Am Ende helfen Sterbesakramente bei letzter Säuberung.“ Noch nach dem Tod vollzieht das Fegefeuer – jene furchterregende Erfindung der Kirchenväter – eine allerletzte Purgation. Sie erst macht dazu bereit, in den Himmel einzugehen. Bernd Roeck ist seit 1999 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Zürich und einer der besten Kenner der europäischen Renaissance.

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Kultur ist die Summe intellektueller Errungenschaften

Dass das Wort „Kultur“ auf das Universum der Ideen angewandt wird, hat die Menschheit Cicero und dem alten Rom zu verdanken. Cicero beschrieb mit dem Wort das Heranziehen der Seele – „cultura animi“; dabei dachte er offensichtlich an den Ackerbau und sein Ergebnis, die Vervollkommnung und Verbesserung des Pflanzenwachstums. Was für das Land gilt, kann demnach genauso auch für den Geist gelten. Antonio Damasio schreibt: „An der heutigen Hauptbedeutung des Wortes „Kultur“ gibt es kaum Zweifel. Aus Wörterbüchern erfahren wir, dass Kultur eine Sammelbezeichnung für Ausdrucksformen intellektueller Errungenschaften ist, und wenn nichts anderes gesagt wird, meinen wir damit die die Kultur der Menschen.“ Antonio Damasio ist Professor für Neurowissenschaften, Neurologie und Psychologie an der University of Southern California und Direktor des dortigen Brain and Creative Institute.

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Das Wohlbefinden hängt stark von der sozialen Umgebung ab

Die Vorstellung, Glück ließe sich ganz individuell und unabhängig von allen anderen verwirklichen, ist reichlich weltfremd. Ulrich Schnabel ergänzt: „Ein falsch verstandenes, zwanghaft positives Denken, das alles Negative ausblendet und nur rosarote Brillen zulässt, bringt am Ende mehr Unglück als Glück hervor.“ Schließlich hängt das Wohlbefinden eines Menschen stark von der sozialen Umgebung ab, von Freunden, Partnern, Arbeitskollegen et cetera. Zufriedenheit, so zeigt auch eine Langzeitstudie der Harvard University, hat vor allem mit Beziehungen zu tun. Studienleiter George Vaillant erklärt: „Den größten Einfluss darauf, ob ein Leben gelingt, hat Bindung. Und dabei geht es nicht unbedingt um die Bindung zum Lebenspartner, sondern eher um die grundsätzliche Beziehung zu anderen Menschen, also im Sinne einer altruistischen und empathischen Verbindung.“ Ulrich Schnabel ist Wissenschaftsredakteur der Wochenzeitung „Zeit“ und Autor mehrerer erfolgreicher Sachbücher.

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Die Sexualität ist mit existentiellen Fragen des Lebens verbunden

Das Buch „Eros, Wollust, Sünde“ von Franz X. Eder gibt erstmals einen Überblick über die Geschichte der europäischen Sexualität von der Antike bis in die Frühe Neuzeit. Der Autor spannt anhand zahlreicher Beispiele und Quellen einen Bogen von der Politisierung und Sozialisierung des Eros in der griechischen und römischen Antike über den skeptischen Umgang mit dem Sexuellen im frühen Christentum und die ambivalente Sexualwelt des Mittelalters bis zu deren Regulierung und Disziplinierung während und nach der Reformation. Das Thema Sexualität ist unter anderem so spannend, weil es ein irritierender Teil des menschlichen Lebens ist. Viele Menschen sind davon überzeugt, eine individuelle sexuelle Begierde zu besitzen, die in den Tiefen ihres Körpers als Gene und Hormone und in den Grundstrukturen der Psyche verankert sind. Franz X. Eder ist Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien.

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Gerald Hüther erkundet den Begriff der Würde in der Philosophie

Sogar die griechischen Philosophen, so gern und oft zitiert, machten sich um die Würde weit weniger Gedanken, als man annehmen konnte. Wenn sie ein Wort hatten, das dem der „Würde“ ähnelte, dann war es das griechische „to axioma“, was „Ansehen“ bedeutete, „Machtstellung“, „Ehre“ oder „Wertschätzung“. Gerald Hüther stellt fest: „Aber all das waren veränderliche Merkmale, abhängig von anderen und den Umständen ausgeliefert. Die Würde als eine dem Menschen eigene und innewohnende Eigenschaft, unabhängig von den Zeitläufen und nicht jederzeit neu verhandelbar: Das war keine Vorstellung, von der sich die antiken Denker leiten ließen.“ Intensiver beschäftigten sie sich mit der Seele des Menschen, der Psyche, und zum Beispiel der Frage, um wie viel wertvoller diese gegenüber dem Körper sei. Gerald Hüther zählt zu den bekanntesten Hirnforschern in Deutschland.

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Die Lehre der Stoiker geht auf das Jahr 300 v. Chr. zurück

Eine mit farbenfrohen Fresken geschmückte Säulenhalle – „stoa poikile“ – nicht weit von der Athener Akropolis gab einer antiken Philosophenschule den Namen: der Stoa. Bernd Roeck weiß: „Ihre antike Geschichte umspannt ein halbes Jahrtausend, von der Begründung durch Zenon um 300 v. Chr. bis in die Tage des römischen Kaisers Mark Aurel (161 – 180 n. Chr.).“ Dessen „Selbstbetrachtungen“ sind das letzte bedeutende Zeugnis ihrer vorchristlichen Periode. Die Lehre der Stoiker dürfte dazu beigetragen haben, die Akzeptanz des Christentums im griechisch-römischen Kulturraum herbeizuführen. Umgekehrt werden christliche Theologen in der Philosophie der Stoa mannigfache Punkte der Anknüpfung finden. Zenon hielt den sterblichen Leib gegenüber dem Geist, der dem ewigen Feuer gleiche und damit am göttlichen teilhabe, für unwichtig. Bernd Roeck ist seit 1999 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Zürich und einer der besten Kenner der europäischen Renaissance.

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Rolf Dobelli vergleicht den Hedonismus mit der Eudämonie

Im 5. Jahrhundert vor Christus vertrat eine Minderheit der Philosophen, die sogenannten Hedonisten, die Meinung, dass ein gutes Leben aus dem Konsum möglichst vieler unmittelbarer Genüsse bestehe. Rolf Dobelli erklärt: „Das Wort hedonistisch stammt aus dem altgriechischen „hedoné“, was Freude, Vergnügen, Lust, Genuss, sinnliche Begierde bezeichnet.“ Die meisten Philosophen vertraten allerdings den Standpunkt, dass unmittelbare Genüsse nieder, dekadent, ja tierisch seien. Was ein gutes Leben ausmache, seine vor allem die sogenannten höheren Freuden. Das Streben nach diesen höheren Freuden nannten sie „Eudämonie“. Viele Philosophen kamen zu dem Schluss, die Eudämonie sei vor allem ein Gefäß für guten Tugenden. Nur ein ehrenhaftes Leben sei ein gutes Leben. Der Bestsellerautor Rolf Dobelli ist durch seine Sachbücher „Die Kunst des klaren Denkens“ und „Die Kunst des klugen Handelns“ weltweit bekannt geworden.

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Das metaphysische Begehren strebt nach dem absolut Anderen

„Das wahre Leben ist abwesend.“ Aber die Menschen sind auf der Welt. In diesem Alibi erhebt und hält sich die Metaphysik. Emmanuel Levinas erklärt: „Sie ist dem „Woanders“ zugewandt, dem „Anders“ und dem „Anderen“.“ In ihrer allgemeinen Form, die sie in der Geschichte des Denkens angenommen hat, erscheint die Metaphysik in der Tat als eine Bewegung, die ausgeht von einem „Zuhause“, das der Mensch bewohnt, von einer ihm vertrauten Welt – mögen auch an ihren Randzonen noch unbekannte Gebiete liegen oder verborgen sein –,und die hingeht zu einem fremden Außersich, zu einem „Da drüben“. Das Ziel dieser Bewegung – das Woanders und das Andere – heißt „anders“ in einem ausgezeichneten Sinne. Der französisch-jüdische Philosoph Emmanuel Levinas (1905 – 1995) lehrte Philosophie in Nanterre und an der Sorbonne in Paris.

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Die Lust selbst ist weder gut noch böse

Für Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) gehört die zelebrierte Grausamkeit „zur ältesten Festfreude der Menschheit“. Die Lust am Anblick Gequälter rechtfertigte man lange damit, dass die Götter an Opfern und Märtyrern Gefallen fänden. Ludger Pfeil fügt hinzu: „Auch bei harmloseren Bosheiten geht es dem Täter nicht vorrangig um das Leiden der anderen, sondern um den eigenen Genuss daran, der dann allerdings den mitfühlenden Blick auf den anderen verstellt.“ Friedrich Nietzsche schreibt: „Schon jede Neckerei zeigt, wie es Vergnügen macht, am anderen unsere Macht auszulassen.“ Die Lust selbst ist weder gut noch böse; eventuell damit verbundene Unlust eines anderen macht den Menschen laut Friedrich Nietzsche nur im Hinblick auf mögliche Strafe oder Rache Sorgen. Der Philosoph Dr. Ludger Pfeil machte nach seinem Studium Karriere in der Wirtschaft als Projektleiter und Führungskraft und ist als Managementberater tätig.

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