Der „europäische Geist“ erlebte eine Krise

War man um die Mitte des 17. Jahrhunderts durch die zermürbende Erfahrung des Krieges klüger geworden? ES kann jedenfalls kein Zufall sein, dass mehr oder weniger simultan europaweit Tendenzen zu beobachten sind, an allem, was mit überkommenen Machtstrukturen zu tun hat, Kritik zu üben. Jürgen Wertheimer weiß: „Das betrifft Regierungsformen wie Denkstile. England unter der republikanischen Diktatur Oliver Cromwells oder die Revolte der Niederlande gegen die spanische Hegemonie sind nur zwei Beispiele für die beginnende Korrosion traditioneller Herrschaftsgefüge.“ Weit deutlicher jedoch als im Bereich der Politik zeigen sich die Zeichen eines generellen Umbruchs im Bereich der Künste und Wissenschaften. Denn der „europäische Geist“ erlebte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine massive Krise. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

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Der Krieg spielt auch weiterhin eine bedeutende Rolle

Wer einen Blick in die Zukunft werfen will, sollte sich zunächst mit der Gegenwart vertraut machen. Und obendrein ist es bei politischen Prognosen ratsam, die gegenwärtigen Verhältnisse mit denen der Vergangenheit zu vergleichen. Denn dann bekommt man eine Vorstellung davon, was sich in der jüngeren Vergangenheit verändert hat und was sich gleichgeblieben ist. Herfried Münkler erklärt: „In der Regel nämlich kann man davon ausgehen, dass die in der jüngeren Vergangenheit zu beobachtenden Entwicklungen sich in der nächsten Zukunft fortsetzen werden.“ Hieraus kann man erste Elemente einer Prognose ableiten. In diesem Sinne lässt sich eine Prognose von bloßer Prophetie unterscheiden. Voraussagen über das Kriegsgeschehen der Zukunft sind nicht nur in wissenschaftlicher, sondern in diesem Fall auch in moralischer Hinsicht riskant. Herfried Münkler ist Professor em. für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Die Politik braucht die Bereitschaft des Kampfes

Den Menschen ist die Unterscheidung von Freund und Feind nicht fremd. Die Moral unterscheidet zwischen gut und böse, die Ästhetik zwischen schön und hässlich, die Ökonomie zwischen nützlich und schädlich. Der Mensch braucht bei der freiheitlichen Begegnung einen Maßstab, um die Mitmenschen in Gruppen von Nahe- und Fernstehenden zu unterscheiden. Paul Kirchhof weiß: „Für Carl Schmitt ist dieses die Unterscheidung zwischen Freund und Feind.“ Sie ist seiner Meinung nach notwendig, um politische Handlungen und Motive zu erklären und zu verstehen. Ist der Andere existenziell etwas Anderes und Fremdes, sind Konflikte mit ihm möglich. Bedroht das Anderssein des Fremden die eigene Existenz, muss man den anderen abwehren und bekämpfen. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg.

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Bei der Selbstverteidigung gibt es das Problem der Ungleichheit

Viele der Linken behaupten zwar, an Gewaltlosigkeit zu glauben. Dennoch nehmen sie für die Selbstverteidigung eine Ausnahme in Anspruch. Manche Menschen meinen, dass das eine Selbst verteidigungswürdig ist, das andere aber nicht. Damit stellt sich für Judith Butler das Problem der Ungleichheit, dass sich aus der Rechtfertigung von Gewalt im Dienst der Selbstverteidigung ergibt. Leben zählen in dem Sinn, dass sie in der Sphäre der Erscheinung physisch Gestalt annehmen. Sie zählen auch deswegen, weil sie alle gleich geschätzt werden müssen. Und doch ist die Berufung auf Selbstverteidigung vonseiten derjenigen, die Macht ausüben, allzu oft nichts anderes als die Verteidigung dieser Macht. Gleichzeitig beanspruchen sie damit ihre Vorrechte und die von ihnen vorausgesetzten und geschaffenen Ungleichheiten. Judith Butler ist Maxine Elliot Professor für Komparatistik und kritische Theorie an der University of California, Berkeley.

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Der klassische Terrorismus hatte zwei Ausprägungen

Den „klassischen“ Terrorismus hat es in Europa seit dem 19. Jahrhundert gegeben. Er hatte vor allem zwei Ausprägungen. Nämlich eine sozialrevolutionäre Variante, wie sie im zaristischen Russland entstanden ist, und eine nationalseparatistische, etwa im Baskenland in Form der Untergrundorganisation ETA. Diese kämpfte mit Gewalt für eine Abspaltung der nordspanischen Region vom Mutterland. Edgar Wolfrum ergänzt: „Was des einen Terrorist war, war oftmals des anderen Freiheitskämpfer.“ Seit den 1970er Jahren kam eine äußerst gewalttätige Variante hinzu. Zum Beispiel in Gestalt der deutschen „Roten Armee Fraktion“ (RAF) oder den italienischen „Brigate Rosse“. Oft verbanden sich diese Gruppierungen mit dem internationalen Terrorismus der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO). Gewaltakte und Morde zielten auf herausgehobenen Personen der politischen Klasse oder der gesellschaftlichen Elite. Edgar Wolfrum ist Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg.

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Es tobt kein weltweiter Kampf der Kulturen

Es sieht für Markus Gabriel so aus, als gebe es mehr oder weniger deutlich voneinander abgegrenzte Kulturen. Die Grenzziehung zwischen Kulturen scheint außerdem häufig mit den Grenzen von Nationalstaaten verbunden zu sein. Man spricht landläufig etwa von einer deutschen, chinesischen, amerikanischen oder russischen Kultur. Manche glauben auch, es tobe seit Jahrtausenden ein welthistorischer Kampf der Kulturen. Dieser entfaltet sich im 21. Jahrhundert als Konflikt, den Kulturräume durch die Globalisierung in verschärften Wettbewerb miteinander austragen. Markus Gabriel erklärt: „Diese Idee wurde Ende des 20. Jahrhunderts prominent vom in Harvard lehrenden Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington vertreten.“ Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

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Der Tod ist allgegenwärtig

Der Tod ist für Michael Wolffsohn keineswegs ein Tabu in Deutschland. Der anonyme und fremde Tod ist sogar ein Dauerthema in Kultur und Literatur, Natur und Geschichte. Der fremde, anonyme Tod ist allgegenwärtig. Was wäre das Kino und das deutsche Fernsehen ohne Krimis und Tod. Michael Wolffsohn ergänzt: „Tote, im Dutzend billiger und quotenträchtiger. Je mehr Tote, desto besser, weil unterhaltsamer.“ So gesehen wird der Tod wahrlich nicht verdrängt. Es ist aber stets der Tod der anderen. Der andere ist gestorben, nicht ich. Wie schön, wie beruhigend. Selbst beim Tod nahestehender Menschen, so Elias Canetti, fühlt man trotz allem Schmerz eine Art von Erleichterung: „Gottlob ich nicht, noch nicht.“ Prof. Dr. Michael Wolffsohn war von 1981 bis 2012 Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München.

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Europa hat noch jede Krise gemeistert

Es ist gegenwärtig ein geflügeltes Wort – die Krise Europas. Aber befand sich Europa nicht permanent in irgendeiner Krise? Nirgendwo sonst auf der Welt sind vor allem im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Nationalismen mit solch tödlicher Wucht aufeinandergeprallt. Dadurch haben sie einen ganzen Kontinent in Schutt und Asche gelegt. Edgar Wolfrum erläutert: „Wie auch immer sich die Situation gestaltete, schlimmer als vor 1945 konnte es nicht werden. Und bisher hat jede Krise Europas, und davon gab es seit den 1950er Jahren zahlreiche, zu einer neuen zukunftsweisenden Dynamik geführt.“ Diese brachte das Projekt Europa nach vorn. Europa war immer ein Geschichtsraum, der sich sozial, ökonomisch und politisch veränderte. Dabei waren seine Grenzen niemals eindeutig bestimmbar. Edgar Wolfrum ist Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg.

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Die Weltordnung justiert sich neu

Das Philosophie Magazin Nr. 04/2022 stellt im Titelthema die Frage „Wohin steuert die Geschichte?“ Die Antworten darauf sind vielfältig und beschäftigen Philosophen von der Antike bis zur Gegenwart. Jetzt da der Ukrainekrieg die Welt in große Ungewissheit stürzt und die Weltordnung sich neu justiert, ist sie drängender denn je. Es gibt eine Disziplin, die seit jeher versucht, Gesetze im Gang der Geschichte zu erkennen. Chefredakteurin Svenja Flaßpöhler kennt sie: „Die Geschichtsphilosophie ist es, die versteckte Logiken aus der scheinbaren Willkür herauspräpariert, um die menschliche Gattung in einen überwölbenden Gesamtkontext zu stellen.“ Wird Hegel recht behalten? Ist der Krieg eine dialektische Volte, die den Pfad des Fortschritts schlussendlich vorantreiben wird. Friedrich Nietzsche dagegen ging von einen zyklischen Geschichtsverlauf aus: Dann wäre der Krieg die Wiederkehr des Immergleichen, aus dem es kein Entrinnen gibt.

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Deutschland führte wieder Krieg

Nach der Epochenwende von 1989 ist leider kein „goldenes Zeitalter“ des Friedens angebrochen. Edgar Wolfrum stellt fest: „Aus der tiefsten Ächtung ist der Krieg vielmehr wieder zu neuer Bedeutung gelangt, auch in Europa.“ Im zerfallenen Jugoslawien brachen seit 1991 blutige Konflikt aus. In Randgebieten der ehemaligen Sowjetunion fanden ebenfalls Kämpfe statt. In nie dagewesener Form wurden in verschiedenen Staaten terroristische Anschläge verübt. Die Terroranschläge auf das New Yorker World Trade Center 2001 waren für viele Beobachter der Beginn einer neuen Zeitrechnung. Es folgten die Kriege in Afghanistan und dem Irak, dann kamen kriegerische Auseinandersetzungen in Nordafrika, schließlich der Syrienkrieg. In diesem Zeitalter der „neuen Kriege“ wandelte sich die außenpolitische Stellung und militärische Rolle Deutschlands fundamental. Deutschland wurde wieder zu einer Krieg führenden Nation. Edgar Wolfrum ist Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg.

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Die Folgekosten des „Aufbau Ost“ wurden unterschätzt

Die Neubildung der deutschen Nation – und darum ging es ja bei und nach der Wiedervereinigung von 1990 – schien gelungen. Deutschland war ein postklassischer Nationalstaat, als Großmacht gezähmt, da in vielfältige supranationale Strukturen und Gebilde eingebunden. Die Deutschen hatten aus ihrer Geschichte gelernt und begriffen, dass sie nach zwei Weltkriegen und ungeheuerlichen Verbrechen eine unverhoffte zweite Chance erhielten, wie sie im Leben nur selten vorkommt. Edgar Wolfrum erinnert sich: „Der äußeren Einheit würde rasch die innere Einheit folgen. „Blühende Landschaften“ wurde versprochen. Das war die erste Täuschung.“ Die Transformation von einer sozialistischen Planwirtschaft in eine soziale Marktwirtschaft verlief nicht reibungslos. Zwischen West und Ost tat sich ein großer Graben auf, die Folgekosten des „Aufbau Ost“ wurden massiv unterschätzt. Edgar Wolfrum ist Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg.

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Xerxes herrschte über das größte Reich

Eine der engsten Stellen des Hellespont, des schmalen Kanals, der sich von der Ägäis ins Schwarze Meer hinauf schlängelt, trennt Europa von Asien. Dort ragte eine Landzunge, der sogenannte Hundeschwanz, von der europäischen Seite aus ins Meer hinein. Hier war 480 Jahre von Christi Geburt eine so erstaunliche Tat vollbracht worden, dass es den Anschein erweckte, ein Gott habe gehandelt. Tom Holland erklärt: „Zwei Ponton-Brücken, die sich vom asiatischen Ufer hinüber zum Hundeschwanz erstreckten, hatten die beiden Kontinente zusammengespannt.“ Natürlich hatte nur ein Monarch, der über unendliche Mittel verfügte, die Meeresströmungen in einer so herrschaftlichen Art und Weise zähmen können. Xerxes, der König Persiens, herrschte über das größte Reich, das die Welt je gekannt hatte. Der Autor und Journalist Tom Holland studierte in Cambridge und Oxford Geschichte und Literaturwissenschaft.

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Der Staat muss für Sicherheit sorgen

Die Entwicklung des menschlichen Zusammenlebens zu einem Staat bestimmt das Verständnis des Menschen über seine Fähigkeit zur Freiheit und zum Frieden. Paul Kirchhof erläutert: „Bekämpfen sich die Menschen, muss eine öffentliche Hand herrschen und Sicherheit gewährleisten. Wird der Herrscher zur Bedrohung individueller Freiheit, entwickeln die Menschen ein Regierungssystem der Gewaltenteilung.“ Traut der Staat den Menschen zu, ihre Konflikte letztendlich ohne Gewalt – ohne Faust und Fehde – zu lösen, organisiert er eine Gerichtsbarkeit, die in allein sprachlicher Auseinandersetzung Streit schlichtet und Frieden schafft. Der Kampf findet mit Worten statt, nicht mit Waffen. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg. Als Richter des Bundesverfassungsgerichts hat er an zahlreichen, für die Entwicklung der Rechtskultur der Bundesrepublik Deutschland wesentlichen Entscheidungen mitgewirkt.

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Die industrielle Revolution verstärkte den Konsum

Konsum als Lebensmodell hat, so seine Befürworter, die beste aller Welten geschaffen. Je mehr Gesellschaften konsumieren, desto innovativer sind sie, desto wohlhabender, sicherer, friedlicher. Und nicht nur das: Durch die Massenproduktion wurde es möglich das Los aller Menschen zu verbessern. Philipp Blom nennt Beispiele: „Nie waren so wenige Menschen hungrig wie heute, nie konnten mehr Menschen lesen und schreiben. Nie war die Kindersterblichkeit niedriger, nie lebten mehr Menschen in Demokratien oder in stabilen Staaten mit demokratischen Zügen.“ Ohne Konsumkonjunktur und ohne die fossilen Brennstoffe, die sie schufen, wäre nichts von alledem möglich gewesen. Richtig, sagen die Kritiker. Unsicher ist allerdings, ob dieses Modell eine Zukunft hat. Fraglich ist auch wie lange es durchgehalten werden kann, bevor die Risiken, die es geschaffen hat, erdrückend werden. Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford und lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien.

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Es gibt nicht die eine deutsche Geschichte

Helmut Walser Smith beschreibt in seinem neuen Buch „Deutschland“ die Geschichte der deutschen Nation von 1500 bis in die Gegenwart. Dabei hält er die Idee des Nationalstaats und die Ideologie des Nationalismus hellsichtig auseinander. Imaginationen von Deutschland und deutsche Wirklichkeit stoßen in seinem Werk hart aufeinander. Die nationalistischen Exzesse des Dritten Reichs im 20. Jahrhundert schildert Helmut Walser Smith ebenso eindringlich wie schonungslos. Seine klugen Gedanken über Deutschland und das Erbe seiner Vergangenheit reichen bis hin zur Bundestagsrede von Navid Kermani und den aktuellen Versuchen der Alternative für Deutschland (AfD), sich der deutschen Geschichte zu bemächtigen. Für den australischen Historiker Christopher Clark ist das Buch eine Pflichtlektüre für jeden, der sich für Deutschlands Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft interessiert. Helmut Walser Smith lehrt Geschichte an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee.

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Grenzkontrollen sind staatliche Machtpolitik

In der heutigen globalen Staatengesellschaft ist das Europa der offenen Grenzen ein Sonderfall. Mit den Worten von Hans-Peter Schwarz könnte man auch sagen: „Es war und ist ein Großexperiment mit höchst ungewissem Ausgang.“ Der völkerrechtliche Normalfall sind nicht offene Staatsgrenzen, sondern mehr oder weniger wachsam kontrollierte Landesgrenzen. Immer noch ist ein Staat mit Territorialhoheit und allein von ihm selbst kontrollierten Grenzen der Regelfall. Auf diesen haben sich die rund 200 Mitglieder der Staatengesellschaft mit ihren heterogenen Regimen geeinigt. Nach den schrecklichen Erfahrungen, welche die Völker Europas in endlosen Kriegen um Territorien – und damit auch um die geheiligten Staatsgrenzen – gemacht hatten, war es kein Wunder, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die Vision eines Europas ohne Grenzen an Strahlkraft gewann. Hans-Peter Schwarz zählt zu den angesehensten Politologen und Zeithistorikern in Deutschland.

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Das Dritte Reich begab sich auf Kriegskurs

Nach der Inkorporation des „Sudetenlandes“ ins Reichsgebiet richtete sich nun das Interesse des Deutschen Reichs auf die Tschechoslowakei beziehungsweise das, was von ihr nach der Münchener Konferenz übrig geblieben war. Ulrich Herbert erklärt: „Um das Land zu destabilisieren, unterstützte die deutsche Regierung die separatistische Bewegung in der Slowakei, die auf deutsches Drängen schließlich die Abtrennung vom tschechischen Teil des Landes und die Unabhängigkeit erklärte.“ Als die tschechische Regierung Truppen schickte, um die Unruhen niederzuschlagen, nutzte Adolf Hitler die so entstandene Situation der Unsicherheit, um den in Berlin weilenden tschechischen Staatspräsidenten Emil Hácha so stark unter Druck zu setzen, dass er sich bereit fand, Deutschland offiziell zu Hilfe zu rufen und das Schicksal seines Landes „vertrauensvoll in die Hände des Führers des Deutschen Reiches“ zu legen. Ulrich Herbert zählt zu den renommiertesten Zeithistorikern der Gegenwart. Er lehrt als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.

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Erasmus von Rotterdam begründet die Philologie

Erasmus von Rotterdam (1464/69 – 1536) war nicht nur der Erzieher Karls V., sondern er war darüber hinaus ein einschließender Geist. Der überlebensgroße Sammler hat jeden Tag circa 1.000 Wörter zu Papier gebracht. Er trug in seinem weitläufigen Werk Weisheiten von allen Ufern zusammen. Als Herausgeber, Redakteur und Textkritiker begründete er die moderne Philologie. Er war ein geselliger Geist, dessen Briefwechsel keine Ecke seiner Welt ausließen. Zugleich war er jedoch in seiner Zeit eine einsame Erscheinung. Keine Kompromisse nämlich machte er als Pazifist. Legitim konnte ein Krieg für ihn höchstens sein, wenn das ganze Volk in wünschte. Dieses aber bestand für Erasmus von Rotterdam bereits aus Individuen. Die Torheit ist seiner Meinung nach die Einzige, die für alle sprach. Nicht zu schön ist sie sich, vom Olymp zu den Menschen herunterzusteigen.

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Willkürliche Machtausübung bedroht die Freiheit

Wenn man über Freiheit spricht, ist das, wovon man sich befreien will, ein bewegliches Ziel. Heutige Konservative mit intellektuellen Neigungen bezeichnen sich oft als „klassische Liberale“. Ihre Vorstellung von der menschlichen Freiheit wurde von John Locke und den Begründern des modernen Liberalismus geprägt. John Locke baute seine politische Argumentation auf dem Konzept der Freiheit auf. Sein Einfluss ging weit über die politische Sphäre hinaus. Sie prägt bis heute das Ideal einer Autonomie, die für den modernen Menschen zur zweiten Natur geworden ist. Matthew B. Crawford stellt fest: „Lockes Neudefinition der Politik machte eine Neudefinition der menschlichen Natur sowie der Stellung des Menschen in der Welt erforderlich. Letzten Endes musste er neu definieren, wie wir die Welt begreifen.“ Matthew B. Crawford ist promovierter Philosoph und gelernter Motorradmechaniker.

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Die USA brachten die Taliban in Afghanistan an die Macht

Lange Zeit galt Afghanistan als Rückzugsgebiet für Terroristen. Dieses Land am Hindukusch war auch nach dem Abzug der letzten sowjetischen Truppen am 15. Februar 1989 nicht zur Ruhe gekommen. Nach einem Bürgerkrieg übernahmen die von den USA unterstützten Milizen der Taliban im September 1996 die Macht. Nach dem 11. September dieses Jahres forderten die USA viele Male die Auslieferung des Saudis und Geldgebers Osama bin Laden. Dieser lebte seit Langem versteckt, war unauffindbar und galt als Drahtzieher der Terroranschläge vom 11. September 2001 galt. Gleichzeitig bereitete Washington einen Koalitionskrieg gegen das Land vor. Nur vier Wochen nach 9/11 begannen amerikanische und britische Militäreinheiten mit Luftangriffen auf Afghanistan. Edgar Wolfrum ist Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg.

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Josef Joffe bewundert Konrad Adenauer

Als Erstes sagte der beinharte Realist Konrad Adenauer dem Traum von der Wiedervereinigung Deutschlands schon im Herbst 1945 (!) Ade: „Der russisch besetzte Teil ist erst einmal für Deutschland verloren“. Kurz darauf formulierte der Kanzler der Verlierer, was zur Politik des Westens werden sollte, bevor dieser es selber wusste: „Deutschland diesseits der Elbe ist ein integrierender Teil Westeuropas“. Frankreich bat er, nicht das Ruhrgebiet zu internationalisieren, denn das würde unheilvolle Erinnerungen an die Ruhrbesetzung von 1923 wecken und Revanchegelüste befeuern. Es gebe einen besseren Weg, die Sicherheitsängste der Nachbarn zu dämpfen: die „wirtschaftliche Verflechtung“ auf dem Weg zur „Union der westeuropäischen Staaten“. Josef Joffe ergänzt: „Wie es denn auch 1952 mit der Kohle- und Stahlgemeinschaft (EGKS) geschah, welche die klassischen Ressourcen der Kriegsführung europäisierte. Josef Joffe ist seit dem Jahr 2000 Herausgeber der ZEIT.

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Die Idee einer einzigen Identität ist eine Illusion

Amartya Sen zeigt in seinem Buch „Die Identitätsfalle“, dass die falsche Illusion einer einzigen Identität den Krieg der Kulturen zwischen dem Westen und dem Islam konstruiert und fatal vorantreibt. Dabei wird die Welt immer mehr aufgeteilt in statische Blöcke aus Religionen, Kulturen oder Zivilisationen. Faktoren des menschlichen Daseins geraten dabei immer mehr aus dem Blick. Amartya Sen zählt dazu unter anderem den Beruf, die Wissenschaft, die Moral oder die Politik. Globale Bemühungen, der eskalierenden Gewalt Einhalt zu gebieten, scheitern vor allem an einer eindimensionalen Konstruktion von Identität. Das Geschäft der Fundamentalisten besteht in einer Miniaturisierung der menschlichen Existenz, mit der alle Ideologie der Gewalt ihren Anfang nimmt. Amartya Sen ist Professor für Philosophie und Ökonomie an der Harvard Universität. Im Jahr 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie.

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Der Krieg legitimierte alles

Der Krieg war das ureigenste Moment des Nationalsozialismus. Die Abwägung von Interessen, die schwierige Organisation einer vielgestaltigen modernen Industriegesellschaft, die Verwaltung des Mangels, der Ausgleich von Widersprüchen – das alles schien nun obsolet. Ulrich Herbert erklärt: „Fortan ging es nur noch um Sieg oder Niederlage, Triumph oder Untergang. Das vereinfachte alles und legitimierte alles. Ethische Normen, geschriebene Gesetze, internationale Verpflichtungen konnte man fortan ignorieren, wenn es nur dem Sieg diente.“ Auch jenseits des Militärischen unterschied sich dieser Krieg von allen bisherigen. Schon vor dem Einmarsch in Polen hatte Adolf Hitler betont, es gehe gar nicht um Danzig: „Es handelt sich für uns um die Arrondierung des Lebensraums im Osten.“ Ulrich Herbert zählt zu den renommiertesten Zeithistorikern der Gegenwart. Er lehrt als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.

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Die Kultur kann von einer störrischen Unnachgiebigkeit sein

In Reaktion auf eine soziale Ordnung, in der Kultur wahrhaftig allumfassend erschien, begannen einige postmoderne Theoretiker in den 1980er Jahren, die Lehre des Kulturalismus zu verbreiten, wonach der Mensch seiner gesamten Existenz nach Kultur sei. Terry Eagleton ergänzt: „Jede Erwähnung der Kultur wurde zutiefst suspekt, paradoxerweise ausgerechnet zu jenem Zeitpunkt, als die Umweltbewegung auf der Bildfläche erschien.“ Wann immer in einem postmodernen Text das Wort „Natur“ auftaucht, ist es in der Regel von verschämten Anführungszeichen umrahmt. Menschen gelten nicht mehr als natürliche, materielle Tiere mit Bedürfnissen und Fähigkeiten, die ihnen als Art gemeinsam sind, sondern sie werden durch und durch zu kulturellen Geschöpfen. Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.

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Die neue Völkerwanderung steht seit 2015 auf der politischen Agenda

Das erste Ziel der Wanderungsbewegung nach Europa in großem Stil war Italien. Hans-Peter Klein blickt zurück: „Als im Jahr 2011 der libysche Staat des Diktators Gaddafi zerschlagen wurde und das Land in Bürgerkriegswirren versank, setzte die Flucht über das Mittelmeer ein. Bald schlugen Hilfsorganisationen, die Kirchen und einige E-Medien Alarm.“ Dabei beunruhigte nicht so sehr die Erwartung eines kaum zu bewältigenden Ansturms von Flüchtlingen, sondern vielmehr, dass viele von ihnen der Schleuserkriminalität auf der Mittelmeerroute zum Opfer fielen. Seit 2013 berichtete das Fernsehen erst sporadisch, dann häufiger und alarmierend über die unglaublichen Vorgänge: Massenflucht übers Mittelmeer, gesteuert durch Schleuserbanden, schreckliche Havarien, unmögliche Zustände in den italienischen Aufnahmelagern und weitgehende hilflose Behörden in Rom und bei der EU in Brüssel. Hans-Peter Schwarz zählt zu den angesehensten Politologen und Zeithistorikern in Deutschland.

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