Viele Deutsche fürchten sich vor dem sozialen Abstieg

Der Ruf nach dem starken Staat zeigt immer die Annahme einer schwachen Gesellschaft an – wenn Schwäche im Verhängniszusammenhang von Orientierungsverlust und Angst vor dem persönlichen Abstieg besteht. Christian Schüle erläutert: „Individuelle Verlustangst ist die treibende Kraft hinter der Ablehnung jener Mächte, die man dafür verantwortlich macht: Globalisierung, Kapitalismus, Migration. Sie alle, so lässt sich solches Denken personalisieren, nehmen mir auf meiner Scholle in meiner Heimat das mir Zustehende ab.“ Großherzigkeit, Humanitarismus, Toleranz und Solidarität, heißt das im Umkehrschluss, muss man sich leisten können. Und sie sind nur dann möglich, wenn das eigene Ich stabil im Leben steht, getragen von einem formidablen Bruttoinlandsprodukt mit relativer Perspektive von stabilen Wohlstand, Wachstum, Steigerung und Verbesserung, wenn man sich in relativer Ruhe nach oben orientieren kann. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

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Die Suche nach Liebe ist ein quälend schwierige Erfahrung

Der französischen Soziologin Eva Illouz fiel mit etwa zwanzig Jahren auf, dass alle Frauen um sie herum, sie selbst eingeschlossen, über Liebesdinge vor allem in psychologischen Begriffen sprachen und dass diese Redeweise ebenso viel enthüllte wie verbarg. Eva Illouz berichtet: „Irgendwann habe ich dieser Sprache kein Wort mehr geglaubt.“ Stattdessen begann sie, die Liebe aus der Perspektive der Soziologie zu betrachten. Ulrich Schnabel erklärt: „Dabei bleibt sie nicht abstrakt, sondern geht ins Konkrete: Sie befragt Menschen, durchforstet die Anzeigen in digitalen Kontaktbörsen, analysiert Romane ebenso wie Frauenzeitschriften, Werbeblätter und Fernsehshows.“ Sie kommt dabei zu dem Schluss, dass die Suche nach Liebe für die allermeisten Männer und Frauen eine quälend schwierige Erfahrung ist. Ulrich Schnabel ist Wissenschaftsredakteur der Wochenzeitung „Zeit“ und Autor mehrerer erfolgreicher Sachbücher.

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Es gibt drei Möglichkeiten für ein geglücktes Geschlechterverhältnis

Das Titelthema des neuen Philosophie Magazin 04/2018 lautet: „Männer und Frauen: Wollen wir dasselbe?“ Es gibt drei Möglichkeiten für ein geglücktes Geschlechterverhältnis: Erstens klare Regeln, die sexueller Übergriffigkeit einen Riegel vorschiebt. Zweitens Selbstermächtigung. Die Kulturwissenschaftlerin Mithu M. Sanyal fordert Frauen auf, in eine aktive Sexualität zu finden, anstatt eine Gesellschaft zu fordern, die sie vor allen erdenklichen Verletzungen schützt. Drittens das Verstehen. In einem „Spiel der Verführung“ lernen sich Frau und Mann endlich wirklich kennen. Laut Svenja Flaßpöhler, Chefredakteurin des Philosophie Magazins, braucht es ein Geschlechterverhältnis, das Lust aus der Differenz zieht, anstatt sich von ihr zerstören zu lassen. Die ausdrückliche Zustimmung beim Sex gehört zu den Kernforderungen der #metoo-Bewegung. Kritiker befürchten deshalb einen neuen Puritanismus. Nils Markwardt vertritt in seinem Artikel die These, dass eher das Gegenteil zutrifft.

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Der Optimismus der Menschen vor 1914 war schier grenzenlos

Karl Marx und andere progressive Denker haben ein Geschichtsbild geformt, in dem der Fortschritt zentral ist und alle historischen Hindernisse überwunden werden können. Philipp Blom erläutert: „Im 19. Jahrhundert war dieser Gedanke mehr als verständlich. Wissenschaft und Industrie schienen täglich neue Wunder zu vollbringen, und im Laufe der Jahrzehnte wurden Armut und Krankheiten immer weiter zurückgedrängt.“ Es schien, als sei die Zivilisation tatsächlich imstande, ein Neues Jerusalem zu bauen und Hunger, Armut, Unwissenheit und Krieg völlig auszurotten. Es ist heute schwer nachzuvollziehen, von welchem Optimismus viele Menschen in den westlichen Ländern vor 1914 getragen waren. Alles schien lösbar, alles schien möglich, die Kraft der Zivilisation schien unbegrenzt. Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford und lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien.

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Einseitige Liebe kann niemals zur Intimität führen

Die Soziologin Eva Illouz wird in ihren Büchern nicht müde, darauf hinzuweisen, dass das Problem der modernen Liebe im Übergriff des Kapitalismus auf die Gefühle besteht. In der hyperkapitalisierten Welt von heute lasse sich keine Intimität mehr herstellen, ohne dass diese andauernd von Konkurrenzangeboten bedroht werde. Die Liebe will die Menschen, wie der Psychoanalytiker Erich Fromm es bereits in seinem 1956 erschienenen Buch „Die Kunst des Liebens – ausdrückte, vom „Schrecken der Getrenntheit“ erlösen. Matthias Horx ergänzt: „Intimität ist dabei ein wichtiger Schlüssel.“ Ziyad Marar beschreibt in seinem Buch „Intimacy“ die Intimität als Erleben in vier Dimensionen, in „vier Spiegeln“. Sie ist demnach immer gegenseitig, verschwörerisch, emotional und freundlich. Intimität ist die Errichtung eines nach außen abgeschlossenen Raumes, einer mentalen und emotionalen Blase. Matthias Horx ist der profilierteste Zukunftsdenker im deutschsprachigen Raum.

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Die Sieger werden unermesslich reich und unantastbar

Die Zukunft spaltete sich vor einem Jahrzehnt, plötzlich und ohne Vorwarnung. Menschen auf der ganzen Welt wurde im Jahr 2008 mitgeteilt, dass die großen Banken, denen alle etwas schulden und denen gegenüber alle Zahlungsverpflichtungen haben, sich verzockt haben – hoffnungslos, verantwortungslos, amoralisch und dumm. Philipp Blom fügt hinzu: „Und dann wurde ihnen mitgeteilt, man müsse ihnen gemeinsam erwirtschaftetes Geld geben, um ihnen über ihre Schwierigkeiten hinwegzuhelfen und so das ganze System vor dem Kollaps zu retten.“ Millionen von Menschen verloren ihr Haus, ihren Job, ihre Zukunft. Kaum ein Banker ging ins Gefängnis, und innerhalb weniger Jahre waren die Profite und Boni höher als je zuvor. Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford und lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien.

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Faulheit wird fast reflexhaft als Gegensatz zur Arbeit bestimmt

Der Band 21 des Philosophicum Lech bietet wie immer einen anregenden Gedankenaustausch über gesellschaftlich fundamentale Fragen der Gegenwart. Der etwas provokante Titel lautete diesmal „Mut zur Faulheit. Die Arbeit und ihr Schicksal.“ Der breite thematische Bogen reicht von der Austreibung des Faulteufels und den Wonnen der Arbeit über ironisch-heitere Zukunftsvisionen einer Mußemaschine bis hin zu kulturellen Widersprüchen des Kapitalismus. Dennoch ist die Arbeit für viele Menschen offenbar die entscheidende Quelle für Wohlstand, Wert und Würde. Konrad Paul Liessmann, dem wissenschaftlichen Leiter des Philosophicum Lech ist es wieder gelungen, eine hochkarätige Referentenschar zu verpflichten. Dazu zählen unter anderem Univ.-Prof. Dr. Stephan Lessenich, Professor am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München, den Bestsellerautor Ulrich Schnabel und Univ.-Prof. Dr. Martin Seel, Professor für Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main.

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Der kulturelle Kapitalismus ersetzt den industriellen

In der Gesellschaft der Gegenwart wird nicht mehr das Allgemeine, sondern das Besondere erwartet. Andreas Reckwitz erläutert: „Nicht an das Standardisierte und Regulierte heften sich die Hoffnungen, das Interesse und die Anstrengungen von Institutionen und Individuen, sondern an das Einzigartige, das Singuläre.“ Diese Entwicklung hat die gesamte spätmoderne Ökonomie erfasst. Sowohl für materielle Güter wie für Dienstleistungen gilt, dass an die Stelle der Massenproduktion uniformer Waren jene Ereignisse und Dinge treten, die nicht für alle gleich oder identisch sind, sondern einzigartig, das heißt singulär sein wollen. Die spätmoderne Ökologie ist mehr und mehr an singulären Dingen, Diensten und Ereignissen ausgerichtet, und die Güter, die sie produziert, sind zunehmend solche, die nicht mehr rein funktional, sondern auch oder allein kulturell konnotiert sind und affektive Anziehungskraft ausüben. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

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Die Grundlage des Kapitalismus ist das Vertrauen der Bürger ins System

Ökonomische Verhältnisse haben die liberale Demokratie und die soziale Marktwirtschaft in Verruf gebracht. Historiker wie Niall Ferguson haben das schon früh verstanden. Er erinnert die Menschen an etwas, das eigentlich alle wissen könnten. Uwe Jean Heuser erläutert: „Die größte Gefahr für den internationalen Kapitalismus und damit auch indirekt für die weltoffene Demokratie ist dieser Kapitalismus selbst, weil er zur Übertreibung neigt und sich auf diese Weise die eigene Grundlage entzieht.“ Und diese Grundlage ist das Vertrauen der Menschen ins System und auch zueinander; wenn sie Handel treiben oder verhandeln. Deals schließen oder einander Kredite gewähren. Es wäre ein Wunder, wenn eine so tiefgreifende Gefahr sich einfach verflüchtigte. Uwe Jean Heuser isst einer der renommiertesten Wirtschaftsjournalisten Deutschlands und Leiter des Wirtschaftsressorts der ZEIT.

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Aufmerksamkeitsstörungen betreffen nahezu alle Menschen

Überall prasseln Reize auf die Menschen ein, auf sie sie reagieren. Reize, die sie zu steuern beginnen. Denn alles Mögliche giert nach Aufmerksamkeit und bekommt sie auch schließlich. Georg Milzner ergänzt: „Nur nicht die, die sie am meisten verdienen. Und am wenigsten oftmals wir selbst.“ Denn als Folge für die gewaltigen Reizmengen, die tagtäglich auf einen Menschen eindringen, verliert er zunehmend das Gefühl für das, was in ihm vorgeht. Und mehr noch. Alle diese Reize führen untereinander ein erbarmungsloses Gefecht. Es geht dabei nicht um ein komplexes Individuum, sondern allein um die Aufmerksamkeit. Um sie ist ein Konkurrenzkampf entbrannt, die in der Menschheitsgeschichte seinesgleichen sucht. Hinter nahezu allem, was heute Aufmerksamkeit zu erlangen heischt, stehen Vorsatz und Planung, Zielsetzung und Kalkül. Georg Milzner ist Diplompsychologe und arbeitet in eigener Praxis als Psychotherapeut.

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Kultur kann als eine Art soziales Unbewusstes verstanden werden

Seit so etwas wie Kultur existiert, hat sie das Zusammenleben der Menschen geprägt. In seinem neuen Buch „Kultur“ plädiert Terry Eagleton leidenschaftlich für die Rückbesinnung auf kulturelle Werte und liefert zugleich eine Anleitung, wie man seine persönlichen Beziehungen vertieft und dadurch zugleich die Zivilgesellschaft stärkt. Da der Begriff „Kultur“ sehr facettenreich ist, nähert sich Terry Eagleton seinem Gegenstand wohlweislich aus verschiedenen Perspektiven. Nachdem er sich mit der Bedeutung des Wortes „Kultur“ auseinandergesetzt hat, beschreibt er anschließend den entscheidenden Unterschied zwischen der Idee der Kultur und dem Begriff der Zivilisation. Danach befasst er sich mit der postmodernen Doktrin des Kulturalismus und unterzieht dabei die Begriffe Diversität, Pluralität, Hybridität und Inklusivität einer Kritik. Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.

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Der Kapitalismus durchdringt alle Gesellschaftsbereiche

Innerhalb der Wirtschaft spielt die Finanzwirtschaft eine sehr bedeutende Rolle. Stürzt sie in Krisen, etwa in die gravierenden Finanzkrisen der letzten Jahre, so sind viele betroffen: von privaten Anlegern über institutionelle Anleger wie Staatsfonds und Pensionskassen bis zu ganzen Volkswirtschaften. Otfried Höffe definiert den Finanzkapitalismus wie folgt: „Eine erste Gestalt, der (Finanz-) Kapitalismus, ist eine Wirtschaftsform, in der es auf Geld im Großmaßstab, das Kapital, ankommt und dieses Geld nicht länger lediglich ein Tauschmittel, sondern vor allem eine Handelsware ist.“ In der zweiten Gestalt, beim Kapitalismus als allgemeiner Wirtschafsform, lässt man gegenwärtiges Geld in Investitionen arbeiten, um zukünftig einen höheren Ertrag zu erhalten. Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und lehrte in Fribourg, Zürich und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.

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Der Markt zählt zu den ältesten gesellschaftlichen Erfindungen

Die Menschheit kennt mehr als nur eine Ordnungsform visionärer Kraft, die sich dem Prinzip Freiheit verpflichtet. Zusätzlich zur dreidimensionalen Kultivierung, also den visionären Kräften von Technik, Medizin und Erziehung, gibt es die konstitutionelle Demokratie. In ihr wird die politisch notwendige Herrschaft von den Betroffenen selbst ausgeübt und dabei an Freiheitsrechte, an negative und positive Freiheiten, gebunden. Otfried Höffe fügt hinzu: „Eine dritte Vision, eine der ältesten gesellschaftlichen Erfindungen, der Markt, erlaubt den Menschen, das für sie notwendige Arbeiten und Wirtschaften sowie jede Form von Wettstreit und Konkurrenz frei und selbstbestimmt, ohne Einschränkung seitens Dritter, vorzunehmen.“ In Bezug auf die Arbeit ergänzt der Markt das Freiheitspotential der Technik. Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und lehrte in Fribourg, Zürich und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.

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Die Natur ist weder Feind noch Lehrmeister

Beim Thema „Natur“ prallen zwei Meinungen hart aufeinander. Für die einen gilt uneingeschränkt: „Macht euch die Erde untertan.“ Sie wollen den Pfad der Technik weiterbeschreiten und die Natur so vollständig wie möglich beherrschen. Bernward Gesang fügt hinzu: „Natur erleben sie vorrangig als eine Grenze. Eine Grenze unserer Freiheit und unseres Körpers, die uns Krankheiten und Tod bringt.“ Die Menschheit hat die Natur in der Geschichte der Zivilisation enorm verändert, und in der westlichen Welt, also da, wo der Mensch die Natur konsequent beherrscht, geht es fast jedem besser als je zuvor. Das ist das Fazit: Keiner muss mehr hungern, viele Seuchen sind verschwunden und die Lebenserwartung steigt stetig. Hat der Wohlstand die Menschen nicht glücklicher gemacht? Professor Dr. Bernward Gesang lehrt Philosophie mit dem Schwerpunkt Wirtschaftsethik in Mannheim.

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Scott Atran betreibt Forschung unter radikalen Islamisten

Den amerikanischen Anthropologen Scott Atran treibt schon seit Jahren die Frage um, warum Menschen ihr Leben für eine Sache opfern. Er hat durch seine Feldstudien herausgefunden, dass da weder Irre noch lebensmüde Nihilisten am Werk sind. Scott Atran erklärt: „In der Regel sind das ganz normale Leute. Etliche Studien haben schon nach auffälligen Merkmalen gesucht und nichts gefunden.“ Der erste Schlüssel zum Verständnis des Selbstopfers ist für Sott Atran, dass der Kampftrupp von den Kämpfern als eine fiktive Familie betrachtet wird. Menschen wie du und ich verwandeln sich in Fremdenlegionäre des Dschihad, in furiose Kämpfer, die den Tod nicht mehr scheuen. So verrückt dieser Opfermut sein mag – der Erfolg im Gefecht, so scheint es, gibt ihm recht. Scott Atran reist seit Jahren um die Welt und betreibt Forschung unter radikalen Islamisten und ihren Gegenspielern.

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Roboter und Algorithmen geben das Tempo der Arbeitswelt 4.0 vor

Josef Käser, Vorstandschef von Siemens, warnt Aktionäre und Mitarbeiter vor neuen Erschütterungen: „Schnelligkeit, Anpassungsfähigkeit und Veränderungsbereitschaft sind mehr denn je gefordert. Unordnung ist die neue Weltordnung.“ Siemens ist überall. „Change“ heißt im Manager-Denglisch die alles beherrschende Überlebensweisheit der Wirtschaftswelt. Wolfgang Kaden blickt zurück: „Während in früheren Zeiten, bis in die Siebziger des vorigen Jahrhunderts hinein, die Unternehmen vielleicht alle zehn Jahre ein Reformprogramm durchliefen, löst heutzutage eine Umorganisation die nächste ab.“ Man nennt das: „Never stop reorganizing.“ Und kaum einer fragt, ob die unmittelbar Betroffenen, die Mitarbeiter, dieses Tempo mitgehen können oder wollen. Die Geschwindigkeit und Häufigkeit von Veränderungen wird wie ein Naturgesetz vorgegeben – vom Wettbewerb, von der Technik, von der Beraterzunft. Wolfgang Kaden gehört zu den renommiertesten Wirtschaftsjournalisten Deutschlands.

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Der reine Augenblick ist ein abstrakter Traum

Das Titelthema des neuen Philosophie Magazins 05/2016 spürt dem Augenblick nach. Der Augenblick – kaum ist er da, ist er auch schon wieder vorbei. Das moderne Leben gleicht einem Wettrennen. Umso größer ist bei vielen Menschen das Verlangen, die Zeit anzuhalten, präsent zu sein, die Welt wieder zu spüren. Kein Wunder, dass buddhistisch inspirierte Achtsamkeitspraktiken derzeit boomen. Meditierend kommt das Selbst zu sich, wird empfänglich für die Schönheit des Hier und Jetzt. Aber Denker wie Augustinus bis Edmund Husserl argumentieren, dass die Erfahrung des reinen Augenblicks für die Menschen eine Illusion bleiben muss. Aber nicht nur philosophisch ist die Sehnsucht nach totaler Präsenz problematisch. Es stellt sich auch die Frage, ob nicht der neue Achtsamkeitskult ein reaktionäres, gar narzisstisches Moment in sich trägt.

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Die soziale Ungleichheit nimmt weiter zu

Lohndumping ist einer der Faktoren für die steigende Ungleichheit in Deutschland und bedeutet im Grunde nichts anderes, als dass die Früchte der Produktion immer mehr jenen zugutekommen, die Karl Marx Kapitalisten nannte, und immer weniger jenen, die er als Proletariat bezeichnete und die man heute Prekariat nennt. Thomas Seifert erklärt: „Diese Entwicklung beschleunigt die Dynamik der privaten Kapitalakkumulation, die zwangsläufig zu einer immer stärkeren Konzentration von Reichtum und Macht in den Händen weniger führt, wie Marx im 19. Jahrhundert annahm.“ Thomas Piketty schreibt in seinem Bestseller „Das Kapital im 21. Jahrhundert“: „Durch die Fortschritte und die Ausbreitung des Wissens konnte die marxistische apokalyptische Vision zwar vermieden werden, aber dadurch hat sich an den Tiefenstrukturen des Kapitals und den Ungleichheiten nichts geändert.“ Thomas Seifert ist stellvertretender Chefredakteur und Leiter der Außenpolitik bei der Wiener Zeitung.

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Die Politik hat ihre Vorherrschaft an die Wirtschaft verloren

Die Welt erlebt nun seit einigen Jahren eine dreifache Krise. Thomas Seifert nennt sie beim Namen: „Eine Krise des Kapitalismus, die mit dem Beinahe-Kollaps der Weltwirtschaft nach dem Lehman-Pleite am 15. September 2008 offenbar geworden ist, eine Krise der westlichen (Parteien-) Demokratie, die die Probleme nicht lösen kann, und – durch die Verschiebung des Schwerpunkts des Globus von West nach Ost – eine Krise der Weltordnung, des Global Governance Systems.“ Die drei Krisen sind miteinander verwoben, bedingen und verstärken einander, und ein Ende ist nicht in Sicht. Die Wirtschaft hat die zentrale Funktion der Steuerung der Gesellschaft übernommen, die Vorherrschaft der Politik ist längst verloren. Die Wähler haben verstanden, dass die Politik das Gesetz des Handelns an die Ökonomie abgetreten hat, und strafen die politischen Akteure mit Ignoranz, Misstrauen, Totalverweigerung oder Anti-Politik. Thomas Seifert ist stellvertretender Chefredakteur und Leiter der Außenpolitik bei der Wiener Zeitung.

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Jeder möchte einzigartig und authentisch sein

Im Titelthema des aktuellen Philosophie Magazins 03/2016 wird die Frage beantwortet: „Wer ist mein wahres Selbst?“ Fast jeder möchte echt sein, einzigartig erscheinen und authentisch wirken. Gerade in den Zeiten der digitalen Selbstdarstellung zum Beispiel bei Facebook ist der Übergang von der gekonnten Verstellung in die dauerhafte existenzielle Entfremdung fließend. Auch der Alltag ist bei genauerer Betrachtung eine Abfolge von Situationen, in denen man eine bereits vorbestimmte Rolle möglichst überzeugend zu spielen hat. Die Frage „Wer bin ich wirklich?“ wird durch den tiefen Wunsch hervorgebracht, das eigene Leben selbst zu führen, anstatt geführt zu werden. Der Philosoph Byung-Chul Han kritisiert in seinem Beitrag den „Terror des Andersseins“. Im Kapitalismus wollen sich vielen Menschen von der Masse unterscheiden. Doch gerade die Abgrenzung und der permanente Vergleich führen laut Byung-Chul Han in die Hölle der Konformität.

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Slavoj Žižek warnt vor dem Rechtspopulismus in Europa

Die größte Gefahr im gegenwärtigen Europa ist für den Philosophen Slavoj Žižek die Radikalisierung der Einheimischen, die schon längst im Gange ist. In Frankreich gibt es den Front National, in Deutschland Pegida und AfD. Auch in anderen Ländern nehmen rechtspopulistische und rechtsextremistische Tendenzen zu. Slavoj Žižek warnt: „Die radikale Rechte profitiert vom Flüchtlingschaos. Falls Le Pen und Konsorten an die Macht kommen sollten, wird es nicht mehr das Europa sein, das wir kennen und wollen.“ Slavoj Žižek meint damit das Europa des Universalismus, der Aufklärung, der Menschen- und Freiheitsrechte, der Solidarität, und des Sozialstaates. Europa darf seiner Meinung nach sehr stolz sein auf seine Errungenschaften, und es sollte diese entschieden verteidigen. Europa muss auch von den ankommenden Muslimen verlangen, dass diese die europäischen Werte respektieren.

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Flüchtlinge sind der Preis des globalen Kapitalismus

Der Philosoph Slavoj Žižek behauptet: „Europa wird nicht von islamischen Horden bedroht, sondern steckt in der Zwickmühle zwischen zwei Kapitalismusmodellen.“ Wenn die Menschheit die aktuellen Probleme in den Griff bekommen will, braucht es seiner Meinung nach eine Solidarität mit den Entrechteten und Ausgebeuteten der Welt. Vor allem muss die Politik die Spielregeln in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen ändern, um die Gründe für Terror und Flucht zu beseitigen. Slavoj Žižek erklärt: „In den modernen Gesellschaften leben wir unter einer Art Kuppel, die die große Mehrheit der Menschen von Wohlstand und sozialer Teilhabe ausschließt. Was wir in Europa erleben, ist ein Ansturm von Kriegsflüchtlingen und Migranten aus armen und ruinierten Ländern. Diese Menschen versuchen, in unsere Kuppel des Wohlstands einzudringen.“ Flüchtlinge sind der Preis des globalen Kapitalismus.

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Otto von Bismarck eint Deutschland durch militärische Erfolge

Im 19. Jahrhundert bildete sich ein Weltsystem heraus, das von den atlantischen Mächten absolut dominiert war und die einstigen Großreiche China und Indien zu Statisten degradierte. Thomas Seifert erläutert: „Der Sieg Großbritanniens über China im Ersten Opiumkrieg 1839 bis 1842 war dafür das sichtbarste Zeichen.“ Nach der Niederlage im Ersten Opiumkrieg musste China am 29. August 1842 den „Vertrag von Nanjing“ unterzeichnen, in dem Reparationszahlungen in Höhe von 21 Millionen Dollar vereinbart wurden. Japan musste sich fast zur gleichen Zeit dem Westen beugen. Im Jahr 1899 kam es in China zum Krieg der Boxer gegen die vereinigten acht Staaten (Deutsches Reich, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Österreich-Ungarn, Russland und die USA) mit dem Ziel, die Vorherrschaft der imperialistischen Mächte zu brechen. Die Boxer wurden blutig niedergeschlagen. Thomas Seifert ist stellvertretender Chefredakteur und Leiter der Außenpolitik bei der Wiener Zeitung.

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Emotionen haben in der Arbeitswelt nichts zu suchen

Emotionen am Arbeitsplatz lassen sich nicht verhindern, aber man kann sie verstehen. Grob geschichtlich betrachtet sagt Alexander Goebel, dass der Kapitalismus zu einer einseitigen Wahrnehmung der Emotionen gekommen ist und zwar aus folgenden Gründen: Der typischen Arbeiter an einen gewöhnlichen Arbeitsplatz zu Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert hat seine Arbeitsbedingungen grundsätzlich nur still erlitten, wiewohl er vielleicht innerlich wütend war. Damals gab es keine oder wenige emotionale Äußerungen, denn solche hätten zu Schwierigkeiten bis hin zum Verlust des Arbeitsplatzes geführt. Alexander Goebel fügt hinzu: „Die Arbeit an sich war emotional unentrinnbar mit Mühsal, Verachtung und Ungerechtigkeit verbunden. Negative Werte, die die Menschen stumm dienend solange erduldeten, bis der Leidensdruck einfach zu groß wurde und sich die aufgestauten Emotionen in Protest und Arbeitskampf entluden, zu Recht und mit Recht.“ Alexander Goebel ist seit 40 Jahren erfolgreich im Emotionsgeschäft unterwegs.

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Das deutsche Bürgertum kritisiert die Prinzipien des Liberalismus

Der Schock der sogenannten Gründerkrise von 1873 bis 1879 führte zu einer weitreichenden Umorientierung größerer Teile des deutschen Bürgertums. Die Kritik an den Prinzipien des Liberalismus wurde lauter – sie bezog sich auf die freie, vom Staat weitgehend unabhängige Marktwirtschaft, auf den Freihandel, aber auch auf die politischen Maximen der Liberalen. Ulrich Herbert fügt hinzu: „Lauter wurde vor allem der Ruf nach einem stärkeren Eingreifen des Staates in die Wirtschaft: Er sollte den nationalen Markt gegen die verstärkt zu spürende Konkurrenz aus dem Ausland schützen und die mit dem Industriekapitalismus verbundenen Risiken für die deutschen Produzenten vermindern.“ Ulrich Herbert zählt zu den renommiertesten Zeithistorikern der Gegenwart. Er lehrt als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.

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