Das christliche Abendland ist mehr Fiktion als Fakt

Wenn vom „Christlichen Abendland“ die Rede ist, muss laut Michael Wolffsohn zuerst einmal geistiger Müll beseitigt werden. Dasselbe gilt für die „Christlich-Jüdische“ Prägung des Abendlands. Das alles ist mehr Fiktion als Fakt. Das „Christlich-Jüdische“ Abendland ist eine reine Sprache der Wiedergutmachung, weil ein nicht nur deutsches Kollektiv sein schlechtes Gewissen dauerhaft beruhigen möchte. Der nicht selten geistlose Zeitgeist missversteht den Begriff des Christlichen oder Christlich-Jüdischen Abendlandes. Michael Wolffsohn stellt fest: „Da gibt es eher stammtischlerisch grölende Zeitgenossen. Sie wollen die „Islamisierung des Abendlandes“ verhindern. Dabei reden sie sich und anderen ein, das Abendland vor dem neuerlichen Untergang zu retten.“ Das ist der eine Meinungsstrom. Prof. Dr. Michael Wolffsohn war von 1981 bis 2012 Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München.

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Amartya Sen kennt die globalen Wurzeln der Demokratie

Die Demokratie wir oft als eine typisch westliche Idee hingestellt, die der nicht-westlichen Welt fremd ist. Die Probleme vor dem der Westen heute im Nahen Osten und überall sonst steht, schätzt man laut Amartya Sen vollkommen falsch ein. Oft wird bezweifelt, dass es den westlichen Ländern gelingen wird, dem Irak oder einem sonstigen Land die Demokratie „aufzuzwingen“. Für Amartya Sen besteht jedoch nicht der geringste Zweifel daran, dass die modernen Begriffe von Demokratie und öffentlichem Diskurs stark von europäischen und amerikanischen Analysen und Erfahrung beeinflusst wurden. Insbesondere von der geistigen Kraft der europäischen Aufklärung. Dazu gehören die Beiträge von Demokratietheoretikern wie Marquis de Condorcet, James Madison, Alexis de Tocqueville und John Stuart Mill. Amartya Sen ist Professor für Philosophie und Ökonomie an der Harvard Universität. Im Jahr 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie.

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Das Drama war ein Produkt der Stadtstaaten

Die Männer, die aus dem Trojanischen Krieg zurückkamen, waren Verändernde und Veränderte. Von den Erfahrungen auf dem Schlachtfeld gezeichnet, passten sie nicht mehr ins soziale Gefüge der Orte, von denen sie ausgezogen waren. Und doch blieben sie im Gedächtnis derer Leitfiguren. Jürgen Wertheimer stellt fest: „Mit der Erfindung des Dramas findet im 5. Jahrhundert vor unserer Zeit ein entscheidender Medienwechsel statt.“ Natürlich gab es Rituale und kultische Vorführungen schon früher und an anderen Orten. Aber es ist sicher nicht übertrieben zu sagen, dass das Drama ein Produkt der noch jungen Stadtstaaten war. Es diente als zentrale öffentliche Form der kulturellen Selbstdarstellung. Unterhalb des Burghügels der Akropolis, kann man seine Reste noch heute besichtigen. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

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Philosophen sind Liebhaber der Weisheit

Die Philosophen des antiken Griechenland verschmähten es, an die streitsüchtigen und unsterblichen in den zu glauben. Das beruhte meistens darauf, dass sie es vorzogen, darüber nachzudenken, was sowohl am Universum als auch an ihnen selbst wahrhaft göttlich war. Zu ergründen, was der Materie zugrunde lag. Das war gleichbedeutend damit, dass man erforschte, wie Menschen sich richtig verhalten sollten. Denn jenseits all der wimmelnden Vielfalt und der Veränderlichkeit menschlicher Bräuche existierte ein Muster für die Dinge. Tom Holland stellt fest: „Es war ewig und vollkommen und man musste es nur identifizieren. Und nicht in den Lügen der Dichter fand es sich, sondern in den Bewegungen des Kosmos.“ Der Autor und Journalist Tom Holland studierte in Cambridge und Oxford Geschichte und Literaturwissenschaft.

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Manchmal muss man das Weltbild radikal verändern

Carlo Rovelli vertritt die These, dass ein wichtiger Teil der wissenschaftlichen Methodologie ihren Ursprung in der Schule von Milet, vor allem im Denken Anaximanders hat. Gestützt wird seine Vermutung durch den milesischen Naturalismus, dem erstmaligen Gebrauch von theoretischen Begriffen oder der Vorstellung von Naturgesetzen. Dass die Naturgesetze die Notwendigkeit der Abfolge von Ereignissen bestimmen, geht auf die Schule von Milet zurück. Vor allem vermittelte Milet der Welt diese einzigartige Kombination aus Respekt und Kritik im selben intellektuellen Gebiet. Dort entstand auch die allgemeine Idee, dass die Welt nicht so sein muss, wie sie den Menschen erscheint. Um wie Welt besser zu verstehen, kann es notwendig sein, das existierende Weltbild radikal zu verändern. Carlo Rovelli ist seit dem Jahr 2000 Professor für Physik an der Universität Marseille.

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Griechenlands Demokratie war keine Wohlfühloase

Die griechische Demokratie war alles andere als eine Wohlfühloase. Jürgen Wertheime weiß: „Sehr viel eher war sie ein permanentes psychisches und physisches Testlabor und eine Art mentales Trainingslager. Was auf dem Theater durchgespielt wurde, konnte im Alltag auch und gerade bekannter Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens den Tod bedeuten.“ Die großen Philosophen wie Sokrates, Platon, aber auch die Vorsokratiker wie Empedokles standen unter Generalverdacht. Und oft bedurfte es nur einer speziellen politischen Konstellation, um sie zu Fall zu bringen. Für Platon zum Beispiel waren die Herrschaftsmethoden der 30 Oligarchen ein tiefer Schock. Diese hatten 404 v. Chr. nach der Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg die Macht an sich gerissen. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

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Platon verficht eine klare Ordnung des Diskurses

Das Theater setzt Gefühle frei und schafft sogar Momente der Empathie mit dem Abscheulichen. Es steuert, kommentiert, kontrolliert diese Gefühle, indem es mit ihnen artistisch jongliert. Jürgen Wertheimer stellt fest: „Wie alle wichtigen Spiele ist auch dieses ein sehr ernstes Spiel, wenngleich kein Spiel auf Leben und Tod. Stattdessen „nur“ eine Simulation – eine Simulation, in der es um Leben und Tod anderer geht.“ Aber genau deshalb konnte man in den Theatern Griechenlands gezielt Grenzen überschreiten. Schon damals nicht ohne den massiven Widerstand derer, die in einem solchen Spiel mit dem Feuer der Phantasie und der Emotionen Gefahren für die gesellschaftliche Ordnung sahen. Kein geringerer als Platon (428 – 348 v. u. Z.) war ein Verfechter einer klaren Ordnung des Diskurses. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

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Xerxes herrschte über das größte Reich

Eine der engsten Stellen des Hellespont, des schmalen Kanals, der sich von der Ägäis ins Schwarze Meer hinauf schlängelt, trennt Europa von Asien. Dort ragte eine Landzunge, der sogenannte Hundeschwanz, von der europäischen Seite aus ins Meer hinein. Hier war 480 Jahre von Christi Geburt eine so erstaunliche Tat vollbracht worden, dass es den Anschein erweckte, ein Gott habe gehandelt. Tom Holland erklärt: „Zwei Ponton-Brücken, die sich vom asiatischen Ufer hinüber zum Hundeschwanz erstreckten, hatten die beiden Kontinente zusammengespannt.“ Natürlich hatte nur ein Monarch, der über unendliche Mittel verfügte, die Meeresströmungen in einer so herrschaftlichen Art und Weise zähmen können. Xerxes, der König Persiens, herrschte über das größte Reich, das die Welt je gekannt hatte. Der Autor und Journalist Tom Holland studierte in Cambridge und Oxford Geschichte und Literaturwissenschaft.

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Die Demokratie braucht keine Nachrichtenflut

Interessanterweise lebten die geistigen Väter der modernen Demokratie wie Jean-Jacques Rousseau, David Hume, John Locke und Montesquieu in einer Zeit vor der Nachrichtenschwemme. Dennoch gab es damals einen gehaltvollen politischen Diskurs. Einerseits wurde er über Bücher, Pamphlete, Essays, Debattierklubs und öffentliche Versammlungen geführt. Anderseits schossen überall politische Salons aus dem Boden, die zu einem lebhaften politischen Diskurs beitrugen. Interessanterweise führten diese Begegnungsstätten meist Frauen. Rolf Dobelli fügt hinzu: „Die großen demokratischen Umwälzungen der letzten vierhundert Jahre brauchten keine Tagesschau, keine Nachrichtenportale und keine News-Feeds.“ Dazu zählen die Amerikanische Revolution, die Französische Revolution, die Revolutionen von 1848 und der Fall der DDR. Der Bestsellerautor Rolf Dobelli ist durch seine Sachbücher „Die Kunst des klaren Denkens“ und „Die Kunst des klugen Handelns“ weltweit bekannt geworden.

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Vor der Presse war die Pnyx

Vor der Presse war die Pnyx. Auf einem Hang des gleichnamigen Hügels im alten Athen versammelten sich etwa 6.000 Bürger, um Angelegenheiten von öffentlichen Interesse zu diskutieren. Ein Versammlungsleiter verkündete die Tagesordnung. Timothy Garton Ash weiß: „Ein Herold fragte: „Wer will zur Versammlung sprechen?“ Dann betrat ein erwachsener männlicher Bürger die aus Stein gehauene Rednerbühne. Dann sagte er seinen um ihn versammelten Mitbürgern, was er dachte.“ Besondere Aufmerksamkeit wurde wahrscheinlich den bekannteren Rednern geschenkt. Einschließlich denen, die sich durch ihren Dienst im Rat des Stadtstaats ausgezeichnet hatten. Aber alle hatten das gleiche Recht, frei zu sprechen. Nach der für die Debatte vorgesehenen Zeit fand eine Abstimmung statt. Timothy Garton Ash ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University.

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Die Wahrhaftigkeit strebt nach der Wahrheit

Mit dem Wert von eigenständigem Denken ist unmittelbar das Prinzip der Wahrheit verbunden. Die Wahrheit steht in einem engen Zusammenhang mit der Wahrhaftigkeit einer Person, zumal wenn diese ihre Treue gelobt. Silvio Vietta erläutert: „Wahrhaftigkeit ist eine Denkhaltung, die das Streben nach Wahrheit beinhaltet.“ Umgangssprachlich benutzt man den Begriff „wahr“ im Sinne einer Aussage in Bezug auf einen Sachverhalt. Man erwartet von wahren Sätzen, dass sie dem Sachverhalt entsprechen. Wer diese Erwartung bewusst täuscht, der lügt. Und mit Lügen kann man Menschen sogar in den Tod treiben. Schon in der frühgriechischen Philosophie taucht schon der Gegensatz zwischen „Schein und „wahrem Sein“ auf. Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt.

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Griechische Mythen bestimmen das europäische Weltbild

Der Historiker Paul Veyne zeigte in den 80er Jahren in seinem Buch „Glaubten die Griechen an ihre Mythen?“, dass die griechischen Mythen Geschichten sind, die das europäische Weltbild und die Wahrnehmung der Europäer bestimmen. Dabei handelt es sich auch durchaus um doppelbödige Geschichten. Sie machen laut Jürgen Wertheimer deutlich, wie konstruiert und fragil, wie skrupellos und kreativ die europäische Art ist, Geschichte herzustellen und zu schreiben. Und auch wie virtuos sie damit umzugehen verstehen. Jürgen Wertheimer erläutert: „Einerseits wandeln wir gläubig auf den Spuren der Alten und lesen jedes Gran Wirklichkeit andachtsvoll auf. Zugleich bezweifeln wir jeden Echtheitsanspruch und lösen die Illusionen in der Säure unseres kritischen Verstandes auf.“ Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

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Fortschritt entlastet das Leben

Fortschritt ist eine starke Metapher der Bewegung – und diese hat einen realen Kern. Seit rund 300 Jahren lebt die Menschheit in einem Kontinuum der Forschung und Wissenschaft, das kumulativ wirkt. Peter Sloterdijk ergänzt: „Aus diesem Lernzusammenhang können und wollen wir nicht austreten.“ In der wissenschaftlichen Modernität und ihrer Ergänzung durch Technik spielt sich ein riesiges Experiment ab, das der Entlastung des Lebens gilt. Der technische Fortschritt setzt sich immer dann durch, wenn die Menschen mehr Machtmittel in die Hände bekommen, die ihren Aktionsradius erweitern und ihr Dasein erleichtern. Peter Sloterdijk erläutert: „Fortschritt in einem nicht naiven Sinn bedeutet Ermächtigung und Entlastung.“ Auf dem Gebiet der Moral brauchen seiner Meinung nach allerdings keine Fortschritte gemacht werden. Peter Sloterdijk gilt als einer der wirkungsmächtigsten und zugleich heftig umstrittenen Denker Deutschlands.

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Die neue Völkerwanderung steht seit 2015 auf der politischen Agenda

Das erste Ziel der Wanderungsbewegung nach Europa in großem Stil war Italien. Hans-Peter Klein blickt zurück: „Als im Jahr 2011 der libysche Staat des Diktators Gaddafi zerschlagen wurde und das Land in Bürgerkriegswirren versank, setzte die Flucht über das Mittelmeer ein. Bald schlugen Hilfsorganisationen, die Kirchen und einige E-Medien Alarm.“ Dabei beunruhigte nicht so sehr die Erwartung eines kaum zu bewältigenden Ansturms von Flüchtlingen, sondern vielmehr, dass viele von ihnen der Schleuserkriminalität auf der Mittelmeerroute zum Opfer fielen. Seit 2013 berichtete das Fernsehen erst sporadisch, dann häufiger und alarmierend über die unglaublichen Vorgänge: Massenflucht übers Mittelmeer, gesteuert durch Schleuserbanden, schreckliche Havarien, unmögliche Zustände in den italienischen Aufnahmelagern und weitgehende hilflose Behörden in Rom und bei der EU in Brüssel. Hans-Peter Schwarz zählt zu den angesehensten Politologen und Zeithistorikern in Deutschland.

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Korfu ist die beliebteste Ferieninsel des ionischen Archipels

Hans-Peter Siebenhaar beschreibt in der Einleitung im komplett überarbeiteten und aktualisierten Reiseführer „Korfu“ wie seine Begeisterung zu dem Eiland geweckt wurde. Vor dreißig Jahren besuchte er das Bergdörfchen Pélekas. Bei einer Morgenwanderung breitet sich unter einem strahlend blauen Himmel Korfu vor ihm aus. Es war Liebe auf den ersten Blick. Inzwischen hat er die Insel im Ionischen Meer unzählige Male besucht, ist an den Hängen des mächtigen Inselberges Pantokrátor gewandert, durch uralte Olivenhaine spaziert, hat die malerischen Gassen der Inselhauptstadt erkundet und sich an weitläufigen Sandstränden in das türkisfarbene Meer gestürzt. Dabei hat er Korfu als eine großartige Insel am westlichen Rand Griechenlands mit seiner großartigen Natur und seinen liebenswürdigen Menschen kennengelernt. Auch und vor allem abseits der ausgetretenen Touristenpfade.

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Deutschland verlor die Luftschlacht um England

Im Sommer 1940 stand Großbritannien nun allein gegen Deutschland. Zu einem „billigen Frieden“, wie ihn sich Adolf Hitler vorstellte – für England das Empire, für Deutschland den Kontinent –, war es dennoch nicht bereit. Es war deshalb unklar, wie Deutschland weiter vorgehen sollte. Ulrich Herbert erklärt: „Eine Landungsoperation auf der britischen Insel war militärisch außerordentlich riskant und wurde schließlich verworfen. Stattdessen sollte das Land durch schwere Luftangriffe geschwächt und die Moral der Bevölkerung gebrochen werden.“ Tatsächlich richteten die deutschen Luftangriffe auf die britischen Großstädte schwere Schäden an. Aber trotz gewaltiger Zerstörungen und mehr als 20.000 Toten waren weder die Moral noch die Rüstungsproduktion der Briten nennenswert in Mitleidenschaft gezogen worden. Ulrich Herbert zählt zu den renommiertesten Zeithistorikern der Gegenwart. Er lehrt als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.

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Franz X. Eder stellt die Hausgemeinschaft im antiken Griechenland vor

Um ethisch leben zu können, muss die mächtige Begierde des „eros“ aktiv kontrolliert werden. Franz X. Eder erläutert: „Im >Symposion< baute Platon auf die höheren und vor allem himmlischen genauso wie auf die philosophischen und künstlerischen Potentiale des >eros< und verwies dessen gemeine und krude Kräfte in die Schranken.“ Nach der im „Symposion“ vorgestellten Liebenslehre bewegte man sich im Lebenslauf im besten Fall wie auf einer Leiter nach oben. Eros konnte am besten im oikos, im Haus bzw. in der Hausgemeinschaft gezähmt und fruchtbar gemacht werden, in dessen Mittelpunkt ein monogames Ehepaar agierte. Zum oikos gehörten neben der durch Abstammung und Verwandtschaft formierten Familie auch Sklaven und freie Arbeitskräfte, die durch eine als natürlich geltende hierarchische Ordnung miteinander verbunden waren: als Mann und Frau, Vater und Kinder, als Herr und Sklave. Franz X. Eder ist Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien.

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Deutschland hat sich einst nur über seine Kultur definiert

Wer eine deutsche Zeitung aufschlägt, landet mit großer Wahrscheinlichkeit bei einem Teil, über dem „Feuilleton“ steht. Oder eben „Kultur“. Hier meint „Kultur“ nicht mehr und nicht weniger als „Kunst“. Es ist Thea Dorn wichtig, darauf hinzuweisen, dass es möglicherweise doch einen Bereich gibt, in dem der Staat bestimmte Aspekte der Kultur besonders fördern und privilegieren, in diesem Sinne von „Leitkultur“ sprechen darf: „Eben wenn es um Kunst, wenn es um die geistig-kulturellen Fundamente unseres heutigen Selbstverständnisses geht.“ Kein anderes Land der Welt – außer vielleicht Italien, die zweite der „verspäteten“ europäischen Nationen, und Griechenland als Erbe des antiken Hellas – hat sich so stark, ja in einer bestimmten Epoche sogar ausschließlich über seine Kultur im Sinne von Kunst, Philosophie und Geisteswissenschaft definiert, wie Deutschland dies getan hat. Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

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Der Kapitalismus führte zu einer Heiligsprechung des Konsums

Das Erstaunliche an der derzeitigen Lage ist: Selbst in einer ungewöhnlich langen wirtschaftlichen Wachstumsphase, wie sie Deutschland gerade erlebt und von der viele profitieren, ist der Unmut so groß, dass ihn etwas die neue Große Koalition mit milliardenschweren Wohltaten zuschütten muss. Und noch so viele Subventionen sorgen nicht dafür, dass die Kritik am Kapitalismus abebbt. Der Ausgleich zwischen Reich und Arm scheint nicht mehr zu funktionieren, jedenfalls nicht gut genug, um Aufruhr im System zu vermeiden. Dabei steht der Kapitalismus nicht bloß technisch-ökonomisch infrage, sondern vor allem philosophisch. Denn der Kapitalismus ist eben auch eine Frage der Werte. Intrinsische Motive und solidarische Effekte verpuffen allzu oft, sobald Geld ins Spiel kommt. Dieses Wirtschaftssystem ist voll von widersprüchlichen Effekten. Einer der stärksten ist die Grundüberzeugung, dass das Streben des Einzelnen nach dem eigenen Vorteil am Ende zu einem besseren Leben für alle führt.

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Große Kulturen haben niemals autochthone oder nationale Wurzeln

Wie kein anderes Volk der Antike suchten die Griechen nach Erkenntnis und versahen die Dinge mit Namen. Schon das Wort „Philosophie“, „Weisheitsliebe“, entstammt der griechischen Sprache. Bernd Roeck erläutert: „Mit der ionischen Naturphilosophie zeigt sich das Fragen und Forschen, die Erkundigung, „historie“, erstmals als systematisches Unterfangen.“ Zur kommunikationsfreudigen Geografie des Mittelmeers, zu politischen und sozialen Umständen kam ein weiterer, das Gespräch bereichernder Faktor: die Beziehungen zum Orient. Große Kulturen haben niemals autochthone oder nationale Wurzeln. Sie entstehen durch Austausch und fruchtbaren Streit. So verdankt griechischer Geist dem Orient mehr, als das Geschichtsbild des humanistischen Gymnasiums wahrnahm. Die griechische Skulptur zum Beispiel nimmt mit Kulturtransfers aus Ägypten ihren Anfang. Bernd Roeck ist seit 1999 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Zürich und einer der besten Kenner der europäischen Renaissance.

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Als Lebensweise ist Kultur nur eine Frage der Gewohnheit

„Kultur“ ist ein außergewöhnlich komplexes Wort, das vier Hauptbedeutungen beinhaltet: Erstens den Bestand an künstlerischen und geistigen Werken. Zweitens den Prozess geistiger und intellektueller Entwicklung. Drittens die Werte, Sitten, Überzeugungen und symbolische Praktiken, nach denen die Menschen leben. Und viertens eine komplette Lebensweise. Die Kultur eines Volkes kann also Dichtung, Musik und Tanz bezeichnen, aber auch die Lebensmittel, die es isst, die Sportarten, die es betreibt, die Religion, die es praktiziert. Sie kann sogar die Gesellschaft als Ganzes meinen, samt Verkehrsnetz, Wahl- und Müllbeseitigungssystem. Das mag alles typisch für diese Kultur sein, wird aber nicht immer zu ihren Besonderheiten gehören. Terry Eagleton ergänzt: „Kultur in der künstlerischen und intellektuellen Bedeutung des Wortes kann durchaus Innovation miteinbeziehen, während Kultur als Lebensweise im Allgmeinen nur eine Frage der Gewohnheit ist.“ Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.

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Jedes Land hat seine eigenen Klassiker

Was „Klassik“ in der Literatur eigentlich ist, lässt sich nicht eindeutig festlegen. Zum einen ist sie verstanden worden als ein von Ausnahmekünstlern, von Genies geschaffenes überzeitliches Kunst- und Lebensideal, als Norm und Vorbild schlechthin, aus entschwundener Vergangenheit leuchtend und in die Zukunft weisend. So etwa begriffen von der Renaissance bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die Humanisten das Klassische und hatten dabei als historische Ausformung stets nur einen Kulturraum vor Augen: die Antike – besonders die perikleische Glanzzeit Griechenlands im 5. Jahrhundert v. Chr. und die augusteische Blütezeit Roms um Christi Geburt. Die Tatsache jedoch, dass darüber hinaus die Italiener schon frühzeitig das 15. Jahrhundert (Leonardo da Vinci, Raffael), die Engländer und Spanier das 16. Jahrhundert (Shakespeare, Cervantes), die Franzosen das 17. Jahrhundert (Corneille, Molière, Racine) und schließlich die Deutschen die Goethezeit als die Epoche ihrer Klassik bezeichneten, zeigt ein verändertes Klassikverständnis an, das auch im Zusammenhang mit der Herausbildung moderner Nationalstaaten gesehen werden muss.

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Identitätsfragen rücken ins Zentrum des politischen Diskurses

Das neue Philosophie Magazin 02/2017 beschäftigt sich im Titelthema mit der „Identität“. Denn in der gesamten westlichen Welt kehren Identitätsfragen ins Zentrum des politischen Diskurses. Der Kulturwissenschaftler Philipp Felsch sieht in vielen Ländern Europas, den USA und der Türkei den Rechtspopulismus auf dem Vormarsch. Diesen Entwicklungen und ihren Hauptakteuren ist eines gemeinsam: „Sie werfen der politischen Klasse ihrer jeweiligen Länder Versagen vor. Sie alle stehen für die Rückkehr eines aggressiven Nationalismus. Vor allem aber haben sie unsere kulturelle Zugehörigkeit, also unsere Identität zum Politikum gemacht. Die Frage „Wer sind wir? Ist in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung gerückt.“ Vielen Politikern und Anhängern fällt es bei der Debatte um eine Leitkultur schwer, die alte Erkenntnis der Kulturphilosophie zu beherzigen, nach der Kulturen keine statischen Substanzen, sondern in ständiger Veränderung befindliche Prozesse sind.

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Die Entfremdung ist ein durchgängiges Motiv in Friedrich Hölderlins Dichtung

Friedrich Hölderlin (1770 – 1843) gehört, wie der früh verstorbene Novalis, zu den Autoren, deren Leben und Werk zum Mythos geworden ist. Seine Gedichte beeindrucken durch große sprachliche Dichte, Reichtum der Gedanken, Füllen an Bildern und Symbolkraft. Sensibilität uns Schwermut verbinden sich mit der Hoffnung auf Wiederherstellung der zerstörten menschlichen und gesellschaftlichen Harmonie zu einer Form des politischen Gedichts, dem alles Agitatorische fehlt, das aber durch die Tiefe der Empfindung, der Moralität und politischen Integrität, sprachlichen Gestus und ästhetischer Formung überzeugt. Im idealisierten Griechenland fand Friedrich Hölderlin den Orientierungspunkt für seine Konzeption der Humanität. Die Verwendung antiker Strophenformen war keine äußerliche Übernahme tradierter Formen, sondern Ausdruck inniger Verbundenheit mit der Antike und deren rückerinnernden Aktualisierung. Neben den strengen antiken Versformen stehen die späten, zu freien Rhythmen übergehenden Hymnen und Elegien, in denen die Sehnsucht nach dem verlorenen Griechenland zum Ausdruck kommt. Beispiele sind „Archipelagos“, „Mnemosyne“ und „Patmos“.

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Die „Goethezeit“ stellt den deutschen Beitrag zur Weltkultur dar

Was zur Menschwerdung gehört, ist nicht so sehr die dauernde Rückversicherung bei sich selbst, sondern das sich offen halten für das andere, Fremde. Gerade die Deutschen sind von alters her geradezu Herolde der Entwurzelung. Ein anderes Volk hat so sehr die Erlösung von sich selbst, von seinen nationalen, geografischen, mentalen Prägungen immer wieder zum Thema seiner großen Kunstwerke und kulturellen Hervorbringungen gemacht. In der größten kulturellen Blütezeit in Deutschland, während jener paar Jahrzehnte vor und nach 1800, die gemeinhin als „Goethezeit“ bezeichnet werden und die bis heute das Paradigma für den deutschen Beitrag zur Weltkultur darstellen, ist die Sehnsucht nach Entgrenzung das Thema schlechthin. Deutsche Klassik und Romantik, sie bringen mit unterschiedlicher Akzentuierung die Verherrlichung des antiken Griechenlands und des klassischen Italien mit sich.

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