Das Mitleid ist der Kern des Gewissens

Das Mitleid gibt laut Jean-Jacques Rousseau allen Menschen anstelle jener erhabenen Maxime, der durch die Vernunft gestifteten Gerechtigkeit, eine Maxime der natürlichen Güte ein. Diese ist viel weniger vollkommen, aber vielleicht nützlicher als die vorangehende. Jean-Jacques Rousseau fordert: „Sorge für dein Wohl mit so wenig Schaden für andere wie möglich.“ Svenja Flaßpöhler ergänzt: „Nicht Immanuel Kants verkopfter kategorischer Imperativ, sondern das natürliche Gefühl des Mitleids ist der Kern des Gewissens und macht aus einem Menschen ein moralisches Wesen.“ In einer seiner Schriften führt Jean-Jacques Rousseau den Begriff der „Selbstliebe“ ein. Die Selbstliebe ist für ihn eine Grundbedingung dafür, dass ein Mensch seine Emotionen überhaupt positiv auf andere richten kann. Svenja Flaßpöhler ist promovierte Philosophin und Chefredakteurin des „Philosophie Magazin“.

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Orte der Versuchung schärfen die Mündigkeit

Die Mündigkeit wächst in Zonen der Verführung und der Rechtsfreiheit. Ulf Poschardt fügt hinzu: „Sie sind selten und in Rechtsstaaten kaum toleriert, aber in Teilen geduldet. Als Freiheitslabore aber sind sie Inkubatoren von Glück, Fortschritt und jeder Menge wunderbarer Sauereien.“ Die Fähigkeit zur Gewissensentscheidung ist eine Voraussetzung für Mündigkeit. Daher sind die Orte der Versuchung eine wichtige Prüfung, um seine Mündigkeit zu schärfen. Als Verfassungspatriot neigt man zu Nulltoleranz gegenüber rechtsfreien Räumen. Den Deutschen, linken wie rechten, ist kein Vorwand zu blöd, um über die Einschränkung von Freiheitsräumen nachzudenken. Im Nachtleben wären mehr Kontrollen tödlich, zumindest für den freien Geist des Nachtlebens, jener Mischung aus Balz, Bordeaux und Petting. Seit 2016 ist Ulf Poschardt Chefredakteur der „Welt-Gruppe“ (Die Welt, Welt am Sonntag, Welt TV).

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Bei der Selbstverteidigung gibt es das Problem der Ungleichheit

Viele der Linken behaupten zwar, an Gewaltlosigkeit zu glauben. Dennoch nehmen sie für die Selbstverteidigung eine Ausnahme in Anspruch. Manche Menschen meinen, dass das eine Selbst verteidigungswürdig ist, das andere aber nicht. Damit stellt sich für Judith Butler das Problem der Ungleichheit, dass sich aus der Rechtfertigung von Gewalt im Dienst der Selbstverteidigung ergibt. Leben zählen in dem Sinn, dass sie in der Sphäre der Erscheinung physisch Gestalt annehmen. Sie zählen auch deswegen, weil sie alle gleich geschätzt werden müssen. Und doch ist die Berufung auf Selbstverteidigung vonseiten derjenigen, die Macht ausüben, allzu oft nichts anderes als die Verteidigung dieser Macht. Gleichzeitig beanspruchen sie damit ihre Vorrechte und die von ihnen vorausgesetzten und geschaffenen Ungleichheiten. Judith Butler ist Maxine Elliot Professor für Komparatistik und kritische Theorie an der University of California, Berkeley.

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Im Bereich der Werte gibt es moralische Tatsachen

Eine „Tatsache“ ist eine objektiv bestehende Wahrheit. Doch auch im Bereich der Werte gibt es Tatsachen – moralische Tatsachen. Viele Menschen glauben allerdings, dass es keine moralischen Tatsachen gibt. Dies wirft für Markus Gabriel eine grundlegende Frage auf, die in verschiedenen Varianten auftaucht: Gibt es überhaupt objektive Werte? Diese Frage hängt eng damit zusammen, was man tun soll. In den Tagen der Corona-Krise kommen verhaltensökonomische Modelle zum Einsatz. Markus Gabriel stellt fest: „Der Mensch wird in vielen Ländern – gerade jenen in denen eine Ausgangssperre verhängt wird – als Herdentier betrachtet, das nicht wirklich zu moralischen Entscheidungen fähig ist.“ Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

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Das Schicksal ist allmächtig

Zuweilen ruft das Gewissen laut, und das gute ist der bessere Ratgeber als das schlechte. Dieses schleppt sich dahin, und oft verrät sich das Gewissen aus eigenem Antrieb. In der Antike steht die moralische Schuld im Schatten des allmächtigen Schicksals. Dieses sucht den einzelnen Menschen ohne Rücksicht auf dessen Motive heim. In der Neuzeit dagegen tritt epochales Unrecht in der Regel bereits in Begleitung des Unrechtsbewusstseins auf. In Michel de Montaignes Essai sind es Überlegungen zur Folter, die das Gewissen auf den Plan rufen. Offenbar bedarf diese auch damals schon der Rechtfertigung. Erst die Folter, so lautet sie, könne die unterdrückte Stimme des Gewissens zum Klingen bringen. Michel de Montaigne (1533 – 1592) hatte mit seinen Essais schon zu Lebzeiten durchschlagenden Erfolg.

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Jeder Mensch ist für alle und alles verantwortlich

Die Geschwister Scholl und ihre Freunde von der Weißen Rose folgten ihren moralischen Prinzipien und ihrem Gewissen. Sie bezahlten dafür mit dem Tod. Klaus-Peter Hufer erklärt: „Das zu tun, was ihnen als richtig geboten erschien, stand für sie höher als das eigene Leben. Sie übernahmen Verantwortung.“ Verantwortung meint laut Duden die „Verpflichtung, für etwas Geschehenes einzustehen“. Synonyme von Verantwortung sind Moral, Gewissenhaftigkeit und Pflichtgefühl. Doch wie weit geht die persönliche Verantwortung? Der russische Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821 – 1861) war der Ansicht, dass die Verantwortung eines jeden Menschen sehr weit reicht. Ein berühmter Satz von ihm lautet: „Jeder Mensch ist für alle und alles verantwortlich.“ Klaus-Peter Hufer promovierte 1984 in Politikwissenschaften, 2001 folgte die Habilitation in Erziehungswissenschaften. Danach lehrte er als außerplanmäßiger Professor an der Uni Duisburg-Essen.

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Reinhard Haller kennt alle Spielarten der Rache

Spektakuläre Gewalttaten und alltägliche Gemeinheiten des Zwischenmenschlichen haben eines gemeinsam. Im Kern von beiden steckt häufig Rache. Psychiater, Suchtexperte und Bestsellerautor Reinhard Haller öffnet in seinem neuen Buch „Rache“ das Tor zu einer bisher weitgehend unerforschten Dimension der Gefühle. Er beschreibt dabei alle Spielarten der Rache und legt ihre Wurzeln frei. Reinhard Haller erklärt wie aus einem dünnen Trieb, etwa in Gestalt einer geringfügigen Zurückweisung, wie sie im Alltag laufend vorkommt, oft Gewaltsames entstehen kann. Rache ist ein Gefühl, das in allen, auch in den engsten Beziehungen, vorkommt. Nicht selten folgen auf die Gedanken an Rache auch Taten. Meist sind es nur geringfügige Boshaftigkeiten, die im Trubel des Alltags kaum Aufmerksamkeit bekommen. Oft entstehen daraus jedoch psychische Probleme und Konflikte in der Partnerschaft oder im Beruf.

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Der Wille ist innig mit „Leib und Seele“ verknüpft

Die für den Menschen spezifische, personale Freiheit besteht in einer Urheberschaft, die selbstanerkannten Gründen folgt. Otfried Höffe erläutert: „Weil Gründe zählen, ist eine Verantwortung im wörtlichen Sinn gegeben. Nämlich die Möglichkeit, Rede und Antwort zu stehen. Und weil es auf Gründe ankommt, spricht die Philosophie von Vernunft, weil auf handlungsleitende Gründe, von praktischer Vernunft.“ Drei Bedingungen werden dabei erfüllt. Bei selbstanerkannten Gründen wird das Tun oder Lassen nicht von außen erzwungen. Es geschieht frei, im Sinne negativer Freiheit. Darüber hinaus, weil beabsichtigt, auch im Sinne positiver Freiheit. Schließlich erfolgt die Absicht aus dem „Inneren“, aus den Gründen, die man sich zu eigen gemacht hat. Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und lehrte in Fribourg, Zürich und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.

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Das Gewissen ist ein „innerer Richter“

Es gibt vier Kriterien des Gewissens: Erstens kommt es aus dem Inneren des Menschen heraus. Zweitens geht es um Ethik beziehungsweise Moral. Drittens verschafft es sich Geltung und hat einen Anspruch. Viertens ist es eine Richtschnur für richtiges und gutes Beurteilen und Handeln. Damit ist jedoch noch nicht gesagt, wo das Gewissen herkommt und worauf es sich begründet. Es gibt verschiedene Begründungen. Klaus-Peter Hufer erläutert: „Nach der christlichen Religion ist das Gewissen den Menschen gegeben, muss vor Gott gerechtfertigt werden und kann auch von ihm erbeten werden.“ Es gibt Überschneidungen zu den Vorstellungen von Philosophen darüber, was das Gute und Böse unterscheidet und wie demgemäß zu handeln ist. Klaus-Peter Hufer promovierte 1984 in Politikwissenschaften, 2001 folgte die Habilitation in Erziehungswissenschaften. Danach lehrte er als außerplanmäßiger Professor an der Uni Duisburg-Essen.

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Das Gewissen beeinflusst viele Entscheidungen

Jeder Mensch hat ein Gewissen. Vielleicht ist das sogar ein Charakteristikum, das ihn vom Tier unterscheidet. Wer seinem Gewissen folgt, hat es allerdings nicht immer leicht. Denn die Verlockungen, anderen Motiven zu folgen, sind groß. Klaus-Peter Hufer fügt hinzu: „Viele Wege im Leben sind einfach, doch das Gewissen zeigt oft in eine schwierige, steinige, dornige Richtung.“ Menschen können wegen ihres Gewissens in Nöte geraten und ihr Leben riskieren. Manche setzen es sogar aufs Spiel und verlieren es. Im Alltag gibt es viele Prüfsteine für das Gewissen, nicht alle wiegen jedoch schwer. In vielen alltäglichen Situationen steht hinter und neben der Entscheidung das Gewissen. Klaus-Peter Hufer promovierte 1984 in Politikwissenschaften, 2001 folgte die Habilitation in Erziehungswissenschaften. Danach lehrte er als außerplanmäßiger Professor an der Uni Duisburg-Essen.

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Vielschichtige Trauer verbindet und trennt

Die „Unfähigkeit zu trauern“ ist „den Deutschen“ nach 1945 immer wieder vorgeworfen worden. Für Michael Wolffsohn sind das kollektive und deshalb wertlose Schablonen. Auf der politisch-geschichtlichen Ebene gilt seine Sympathie jenen, die gegen Adolf Hitler Krieg geführt haben und dabei Deutsche, viele, sehr viele unschuldige Deutsche töten mussten. Subjektiv haben auch die unschuldigen Deutschen gelitten, sie wurden geschunden, missbraucht und getötet. Objektiv haben diese Unschuldigen ein verbrecherisches Regime gestützt, das nicht zuletzt die Familie von Michael Wolffsohn und seine jüdischen Glaubensgenossen verfolgte, vernichtete und vergaste. Diese vielschichtige Trauer über die Vergangenheit verbindet Michael Wolffsohn mit den Deutschen, und sie trennt sie zugleich. Prof. Dr. Michael Wolffsohn war von 1981 bis 2012 Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München.

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Der fanatische Fremdenfeind hasst alle Ausländer

Menschen mit fremdenfeindlichen Haltungen fühlen sich im Gegensatz zu den Fanatikern nicht in jedem Augenblick von selbstwertbedrohlichen Gefühlen umgetrieben. Ernst-Dieter Lantermann nennt den Grund dafür: „Ihnen bleiben in aller Regel noch andere Orte und Gelegenheiten, ihr angegriffenes Selbstwertgefühl zu stärken, jenseits der Sicherheitsgewinne, die sie aus ihrer Fremdenfeindlichkeit ziehen.“ Der Fanatiker setzt dagegen alles auf eine Karte: Er kennt nur den einen Weg, seine Selbstsicherheiten und seine Selbstwertschätzung zurückzugewinnen – die Fremden mit höchster Konsequenz zu verachten und zu bekämpfen. Während sich fremdenfeindliche Menschen damit begnügen, ihre Ablehnung mit abfälligen Bemerkungen und Gesten, verbalen Rundumschlägen, Beleidigungen, Erniedrigungen, Ab- und Ausgrenzungen oder in Form versteckter oder offener Diskriminierung zum Ausdruck zu bringen, gibt sich der fanatische Fremdenfeind damit nicht zufrieden: Er hasst die fremden Eindringlinge, und sein Hass zielt auf deren Vernichtung. Ernst-Dieter Lantermann war von 1979 bis 2013 Professor für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie an der Universität Kassel.

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Das Gehirn benötigt bei Problemen extrem viel Energie

Wenn das Durcheinander in einer Gesellschaft und in den Köpfen der Menschen immer größer wird, hält das irgendwann auch das beste Gehirn nicht aus. Schon im Ruhezustand, also immer dann, wenn man flach auf dem Rücken liegt und gar nichts denkt, saugt das Gehirn etwa 20 Prozent der vom Körper bereitgestellten Energie in Form von Glukose weg. Gerald Hüther fügt hinzu: „Sobald wir die Augen öffnen, zu denken anfangen oder gar ein Problem haben, steigt dieser Energiebedarf massiv an.“ Und wenn es womöglich gar viele Probleme sind, die sich kaum noch lösen lassen, bricht die normalerweise im Gehirn herrschende Ordnung schnell zusammen. Dann funkt dort alles kreuz und quer, und der Energieverbrauch steigt so stark an, dass das nun auch im Körper als unangenehmes Gefühl spürbar wird. Gerald Hüther zählt zu den bekanntesten Hirnforschern in Deutschland.

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Die Angst zerstört jede Zwischenmenschlichkeit

Jeder Mensch sollte sich mit der Wirkweise der Angst auseinandersetzen. Als Faustregel gilt: Je verängstigter man ist, desto weniger differenziert kann man denken. Wird die Angst größer, nehmen Tendenzen der Pauschalisierung ebenfalls zu. Georg Pieper erläutert: „So kann ein radikales Schwarz-Weiß-Denken entstehen, bei dem man alles in Gut und Böse unterteilt. Und gegen das Böse ist, glaubt so mancher, alles erlaubt. Diese Haltung wird dann zum gesellschaftlichen Problem, denn sie gefährdet unseren Wertekanon.“ Wenn die Angst überhandnimmt, entsteht also eine große Gefahr für die Gesellschaft. Die Angst zerstört jede Zwischenmenschlichkeit. Verschiedene sozialpsychologische Untersuchungen haben gezeigt, dass die Mehrheit der Deutschen vor allem auf Fremde immer zuerst mit Vorurteilen und Ängsten reagieren. Dr. Georg Pieper arbeitet als Traumapsychologe und ist Experte für Krisenintervention.

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Entspannungsübungen helfen gegen Ärger

Der gute Umgang mit einer ärgerlichen Situation beginnt am besten mit einer Selbstdiagnose, indem man sich folgende Fragen stellt: „Wie sehen meine eigenen Gewohnheiten aus? Neige ich zu problematischen Emotionsregulierungen? Praktiziere ich bereits hilfreiche Wege? Wenn nicht: Habe ich überhaupt eine Idee, wie die aussehen könnten?“ Entscheidend ist es laut Hans-Peter Nolting zunächst, seinen Ärger wahrzunehmen. Denn nur wer merkt, dass er verärgert ist, kann bewusst gegensteuern. Das Wahrnehmen des Ärgers ist nicht so selbstverständlich, wie es klingen mag. Vielleicht spürt man nur eine vage Unruhe oder Anspannung und nicht wirklich Ärger, Groll oder den Wunsch, es jemanden heimzuzahlen. Dr. Hans-Peter Nolting beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Themenkreis Aggression und Gewalt, viele Jahre davon als Dozent für Psychologie an der Universität Göttingen.

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Noch nie gab es so wenig Gewalt wie heute

In seinem Buch „Die Naturgeschichte der menschlichen Moral“ verteidigt Michael Tomasello, Direktor des Leipziger Mex-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie, das Mitgefühl als Strategie eigennütziger Interessen. Zudem weist er auf die Tatsache hin, dass sich die Entwicklung der Moral, die das Wohl der Allgemeinheit über den kurzfristigen Lustgewinn des Einzelnen stellt, als gut für die Menschheit und gut für das Individuum herausgestellt hat. Simon Hadler zitiert Steven Pinker, der in seinem Buch „Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit“ folgende These eindrucksvoll darlegt: „Die Gewalt wird historisch gesehen immer wenige, ausgehend von den Jäger- und Sammlergesellschaften über Antike und Mittelalter und quer durch das 20. Jahrhundert bis zur heutigen Zeit, dem Terrorismus und den Kriegen zum Trotz. Noch nie gab es so wenig Gewalt.“ Simon Hadler ist seit 1999 Redakteur bei ORF.at, seit 2009 leitender Kulturredakteur.

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Durch den Schmerz kann eine Schuld beglichen werden

Das innerste Prinzip der Rache ist die Zurückzahlung: Wie du mir, so ich dir. Und auch dem tiefen Wunsch nach Reue, den der oder die Verzeihende hegen mag, wohnt eine derartige Logik der Vergeltung inne. Svenja Flaßpöhler erklärt: „Wenn ich schon auf Rache verzichte, dir deine Schulden erlasse, zeig dich wenigstens erkenntlich. Beweise deine Demut! Deine Dankbarkeit! Dein schlechtes Gewissen! Gib mir irgendetwas zurück!“ Diese Erwartungshaltung, dass eine Gabe mit einer Gegengabe entgolten werden muss, ist keineswegs erst ein Resultat kapitalistischer Tauschwertlogik, sondern bereits in archaischen Gesellschaften zu finden und also tief im Menschen verwurzelt. Diese Verwurzelung zeigt sich heutzutage an jedem Geburtstag. In dem Geschenk, das man von einem Freund empfängt, ist auch der Freud auf eigentümliche Weise anwesend. Dr. Svenja Flaßpöhler ist Stellvertretende Chefredakteurin des Philosophie Magazins.

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Das Über-Ich unterdrückt die aggressiven Triebe

Je höher der Kulturgrad des Menschen ist, desto mächtiger wird sein Über-Ich, das die Unterdrückung der Triebaggression sichert, zugleich aber selbst herrische Züge trägt. Das Ich-Ideal des kultivierten Individuums lädt sich mit jener Gewaltsamkeit auf, die es gerade bannen sollte. Peter-Andre Alt ergänzt: „Dort, wo Mangel existiert, verliert das Über-Ich dagegen seinen Einfluss.“ Sigmund Freund schreibt dazu: „Man denke an die Proletarier, deren Leben eine Häufung von Versagungen ist. Folge davon ist nicht ein besonders großartiges Schuldgefühl, sondern, was viel näher liegt, ein ungestillter Hunger nach Befriedigung mit Neigung zur rücksichtslosen Verleugnung der moralischen Schuld.“ Das Über-Ich leistet Widerstand gegen eine allzu direkte Triebabfuhr, was aber voraussetzt, dass das System der Überhöhung, Sublimierung und Idealisierung ausgebildet ist. Peter-André Alt ist Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Freien Universität Berlin.

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Das Ich wird von den Mächten des Unbewussten beherrscht

Während das Ich als steuernde Instanz auf Ordnung und Organisation ausgerichtet ist, bleibt das Es unberechenbar. Der Trieb ist materialistisch und auf Verbrauch ausgerichtet. Er unterliegt weder einer sittlichen noch einer rationalen Lenkung. Sigmund Freud schreibt: „Selbstverständlich kennt das Es keine Wertungen, kein Gut und Böse, keine Moral.“ Dem Es kann man nur in Vergleichen nahekommen, denn es ist eigentlich unbenennbar, sofern es sich nicht in Träumen oder Neurosen meldet. Peter-André Alt ergänzt: „Aus diesem Grund repräsentiert es auch kein „Unbewusstes“ – einen bis heute häufige Fehlbenennung, die Sigmund Freud immer rügte –, sondern eine amorphe und unbekannte, nur über Wirkungen erfahrbare Ordnung.“ Als „Kessel voll brodelnder Erregungen“ lässt sich das Es weniger beherrschen als über Umwege sublimieren. Peter-André Alt ist Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Freien Universität Berlin.

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Ulrich Schnabel untersucht den Unterschied zwischen Mitleid und Mitgefühl

Psychologen machen einen Unterschied zwischen den Begriffen „Mitleid“ und „Mitgefühl“. Das reine Mitleid ist dabei jene Art von teilnahmsvollen Kummer, die sich auf eine Zuschauerrolle beschränkt, passiv bleibt und einen sicheren emotionalen Abstand wahrt – es entspricht also jener Haltung, die die meisten Menschen zum Beispiel gegenüber Obdachlosen einnehmen. Ulrich Schnabel ergänzt: „Man fühlt sich betroffen, hat eventuell auch ein schlechtes Gewissen, spürt aber nicht den Antrieb oder hat nicht die nötigen Mittel, einzugreifen und die Situation des anderen substanziell zu verbessern.“ Anders hingegen ist es beim Mitgefühl, das mit der Bereitschaft einhergeht, sich persönlich zu engagieren – was zum beispielsweise der Fall ist, wenn ein naher Verwandter obdachlos wird. Ulrich Schnabel ist Wissenschaftsredakteur der Wochenzeitung „Zeit“ und Autor mehrerer erfolgreicher Sachbücher.

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Ein freundliches Nein ist besser als ein hartes Nein

Es liegt zum großen Teil am Auftreten der eigenen Person, wie das Umfeld auf ein Nein kurzfristig reagiert. Tanja Baum kann sich vorstellen, dass ein knappes und hart formuliertes Nein eher auf Unverständnis beim Gegenüber stößt als eine freundliche Absage. Schnell wird dieses Verhalten als fehlende Hilfsbereitschaft, Antipathie, Gleichgültigkeit oder Ablehnung interpretiert. Tanja Baum betont: „Mithilfe der Körpersprache, der Art des Sprechens, der Wortwahl und des gesamten Auftretens kann ein Nein verbindlich und dennoch bestimmt formuliert werden. Die Reaktion der Umwelt fällt dann weniger scharf aus.“ Die Reaktionen auf ein Nein sind natürlich auch unterschiedlich, da jede Situation in einen bestimmten Zusammenhang eingebettet ist. Tanja Baum, systemische Organisationsberaterin und Coach, gründete 1999 in Köln die Agentur für Freundlichkeit mit den Arbeitsschwerpunkten Beratung, Coaching, Training und Meditation.

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Philipp Hübl stellt Sigmund Freuds Modell der Psyche vor

Sigmund Freuds Modell zufolge besteht die Psyche, also der Geist eines Menschen, aus drei Teilen, nämlich erstens aus dem Ich, also dem Bewusstsein, zweitens aus dem Es, in dem sich die Triebe befinden, und drittens dem Über-Ich, in dem Normen gespeichert sind, in Form von Geboten und Verboten zunächst der Eltern und später der Gesellschaft. Philipp Hübl konkretisiert: „Das Bewusstsein hat also, Freud zufolge, drei Zugänge. Erstens erhält es Informationen durch die Wahrnehmung, zweitens Wünsche aus dem Es und drittens Warnungen vom Über-Ich, und zwar vermittelt über das Gewissen, wenn die eigenen Normen und Ideale nicht erreicht sind.“ Das Es ist der älteste Teil des Geistes, in dem Triebe und Instinkte wohnen, ein Reich des Unlogischen ohne Begriffe für Raum und Zeit. Philipp Hübl ist Juniorprofessor für Theoretische Philosophie an der Universität Stuttgart.

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Freundlichkeit wird im Alltag nicht immer gelebt

Sicher lässt sich mit Freundlichkeit nicht jedes Problem lösen. Tanja Baum stellt allerdings fest, dass mit freundlichem Verhalten viele Probleme erst gar nicht aufgetaucht wären. Ein Nein zu äußern, bedeutet immer, auch eine Konfliktsituation zu schaffen. Egal wie banal die Situation auch sein mag, ein Nein ist immer eine Ablehnung für die andere Person. Tanja Baum betont: „Sagen sie Nein, haben Sie sich durchgesetzt. Damit haben Sie bereits einen Vorteil für sich verbuchen können.“ Wer es dabei auch noch schafft, dass sein Gegenüber sich bei einem Nein nicht vor den Kopf gestoßen fühlt, hat sogar einen zweiten Nutzen aus seinem Nein gezogen. Tanja Baum, systemische Organisationsberaterin und Coach, gründete 1999 in Köln die Agentur für Freundlichkeit mit den Arbeitsschwerpunkten Beratung, Coaching, Training und Meditation.

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Ständiges Nörgeln zeugt von Unzufriedenheit

Nörgeln ist für Christian Thiel moralische einwandfrei. Jeden Menschen überkommt es ab und zu. Jeder meckert dann und wann einfach mal los. Deswegen sollte man keinesfalls ein schlechtes Gewissen haben. Wissenschaftliche Belege, dass gelegentliches Nörgeln für eine Beziehung schädlich ist, gibt es nämlich nicht. Christian Thiel fügt allerdings hinzu: „Bei häufigem Nörgeln und gewohnheitsmäßiger schlechter Laune liegt die Sache allerdings ganz anders. Häufiges Nörgeln ist ein Symptom für eine tiefgreifende Unzufriedenheit.“ Es ist wie eine Nachricht an den Partner: „Achtung in deinem Leben, in unserer Partnerschaft stimmt etwas nicht.“ Man sollte diese Nachricht ernst nehmen. Man sollte auf sie hören und sich der Unzufriedenheit stellen. Schlechte Laune ist wie ein Appell. Sie fordert einen Menschen auf, etwas in seinem Leben zu verändern. Christian Thiel ist Single- und Paarberater.

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Ulrich Greiner analysiert die Begriffe Scham und Schuld

Es gibt so gut wie keine Gesellschaft, in der die Scham derart ausschließlich handlungsgeleitet wäre, dass nicht auch Fragen des Gewissens und der Schuld eine Rolle spielten. Umgekehrt gibt es auch keine Gesellschaft, in der Schuldgefühle nicht auch von Scham begleitet würden. Ulrich Greiner erklärt: „Die Begriffe Schamkultur und Schuldkultur sind also nicht dazu geeignet, eine Entwicklung zu beschreiben, die von einer primitiven Kulturstufe zu einer komplexeren führen würde.“ Sie eignen sich aber wohl dazu, das weitläufige Feld von Scham und Schuld zu analysieren und zu strukturieren. Ulrich Greiner war zehn Jahre lang der Feuilletonchef der ZEIT. Als Gastprofessor lehrte er in Hamburg, Essen, Göttingen und St. Louis. Außerdem ist er Präsident der Freien Akademie der Künste in Hamburg.

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