Gewalt ist manchmal moralisch gerechtfertigt

Wenn man Ausnahmen vom Grundsatz der Gewaltlosigkeit macht, zeigt das, dass man bereit ist zu kämpfen und zu verletzen, vielleicht sogar zu morden. Und dass man bereit ist, dafür moralische Gründe anzuführen. Judith Butler erklärt: „Nach dieser Logik handelt man in diesem Fall entweder zur Selbstverteidigung oder zur Verteidigung jener, die zum weit gefassten Regime des Selbst gehören.“ Denn mit diesen kann man sich identifizieren oder als dem weiteren sozialen oder politischen Raum zugehörig anerkennen, in dem man sich auch selbst verortet. Wenn das stimmt, dann gibt es eine moralische Rechtfertigung von Gewalt, deren Basis demografischer Art ist. Was hat die Demografie in dieser ethischen Debatte über Ausnahmen vom Gewaltverbot zu suchen? Judith Butler ist Maxine Elliot Professor für Komparatistik und kritische Theorie an der University of California, Berkeley.

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Terror und Gewalt führen zu keiner stabilen Macht

Gewalt und Macht lassen sich mit Hannah Arendt dadurch unterscheiden, dass Erstere prozessual, dynamisch und zeitlich begrenzt ist. Letztere stellt dagegen eine strukturelle Größe dar, die dauerhaft, und, was fast dasselbe ist, institutionalisiert ist. Gewalt ist ein Komplement von Macht, insofern sie, wie Michel Foucault dargelegt hat, auf einem System von möglichen psychischen und/oder physischen Bestrafungen basiert, die gleichsam den symbolischen Horizont aller Macht bildet. Wolfgang Müller Funk ergänzt: „Das, was als politischer Körper bezeichnet wird, wäre gewissermaßen der Foucaultsche Aspekt des Zusammenhangs von Macht und Gewalt. Jenseits der Befunde des französischen Denkers besteht der Verdacht, dass keine Macht, die allein auf Terror und Gewalt beruht, dauerhaft stabil ist. Wolfgang Müller-Funk war Professor für Kulturwissenschaften in Wien und Birmingham und u.a. Fellow an der New School for Social Research in New York und am IWM in Wien.

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Grausamkeit sollte eigentlich unmöglich sein

Die Grausamkeit gehört für Friedrich Nietzsche zur ältesten Festfreude der Menschheit. Auf der anderen Seite sollte Grausamkeit eigentlich unmöglich sein. Denn es dürfte sie nicht geben, wo es menschlich zugehen soll. Wolfgang Müller-Funk weiß jedoch auch: „Wer sich mit der systematischen Quälerei anderer Menschen, Individuen oder Gruppen, beschäftigt, droht von ihr angezogen zu werden.“ Unmöglich ist die Grausamkeit aber ebenso, weil es schwer ist, sich unvoreingenommen mit ihr zu beschäftigen. Der Schrecken vor ihr führt leicht dazu, sie zu verkennen. Die Aussage, dass Grausamkeit unmenschlich ist, geht leicht von den Lippen. Doch die Entgegensetzung von „menschlich“ und „unmenschlich“ ist fragwürdig. Wolfgang Müller-Funk war Professor für Kulturwissenschaften in Wien und Birmingham und u.a. Fellow an der New School for Social Research in New York und am IWM in Wien.

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Selbstgewählte Identitäten bergen Gefahren in sich

Amartya Sen betont die Bedeutung der wohlüberlegten Entscheidung für selbstgewählte Identitäten. Nämlich um die Zuschreibung ausschließlicher Identitäten abzuwehren. Und so zu verhindern, dass Menschen sich für Kampagnen mobilisieren lassen, in man gebrandmarkte Opfer terrorisiert. Viele Greueltaten auf der Welt gehen auf Kampagnen zurück, in denen man selbstgewählte Identitäten gegen zugeschriebene austauschte. So verwandelten sich alte Freude in Feinde und widerliche Sektierer schwangen sich zu mächtigen politischen Führern auf. Amartya Sen erläutert: „Es ist daher eine anstrengende und äußerst wichtige Aufgabe, im identitätsbezogenen Denken den Elementen der Vernunft und der freien Wahl Geltung zu verschaffen.“ Denn ist gibt tatsächlich Alternativen zwischen denen Menschen wählen können. Amartya Sen ist Professor für Philosophie und Ökonomie an der Harvard Universität. Im Jahr 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie.

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Nicht alle Leben sind gleich wertvoll

Gewaltlosigkeit ist eine ethische Frage im Kraftfeld der Gewalt. Am besten lässt sich Gewaltlosigkeit vielleicht als Widerstandspraxis beschreiben. Diese ist eben in dem Moment möglich, wenn nicht gar erforderlich, in dem die Ausübung von Gewalt am meisten gerechtfertigt und offensichtlich scheint. Judith Butler stellt fest: „So lässt sich Gewaltlosigkeit als Praxis verstehen, die nicht nur einem gewaltsamen Akt oder Prozess Einhalt gebietet, sondern selbst nachhaltiges – und möglicherweise durchaus aggressiv durchsetztes – Handeln erfordert.“ Judith Butlers Auffassung nach lässt sich also Gewaltlosigkeit nicht einfach als Abwesenheit von Gewalt oder als Enthaltung von Gewalt begreifen. Vielmehr muss man sie als anhaltendes Engagement, ja als Umlenkung von Aggression zum Zweck der Verteidigung der Ideale von Gleichheit und Freiheit verstehen. Judith Butler ist Maxine Elliot Professor für Komparatistik und kritische Theorie an der University of California, Berkeley.

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Tyrannenmord ist moralisch gerechtfertigt

Klaus-Peter Hufer stellt folgende Frage: „Darf direkte, personale Gewalt angewendet werden, um indirekte, strukturelle Gewalt zu verhindern?“ Beim revolutionären Widerstand gegen Diktaturen und/oder terroristische Regime gibt es wohl keine Wahl. Tyrannenmord ist durchaus erlaubt und moralisch gerechtfertigt. Den Widerständlern vom 20. Juli 1944 blieb keine Alternative zum Versuch, Adolf Hitler zu ermorden. Wie steht es aber um den Widerstand unter prinzipiell demokratischen Verhältnissen? Für Protagonisten des gewaltfreien Widerstands stellt sich diese Frage nicht. Zum einen werden von ihrer Seite „erhebliche Zweifel an den Erfolgschancen gewaltsamer Kampfmittel“ geäußert. Zum anderen sind Verluste an Menschenleben und Produktionsmittel nicht gerechtfertigt. Klaus-Peter Hufer promovierte 1984 in Politikwissenschaften, 2001 folgte die Habilitation in Erziehungswissenschaften. Danach lehrte er als außerplanmäßiger Professor an der Uni Duisburg-Essen.

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Gefühle bestimmen heute alles

Unverhältnismäßiges Aggressionsverhalten ist nicht auf Covid-19-Leugner oder Verharmloser der Epidemie beschränkt. Richard David Precht weiß: „Es findet sich ebenso auf der Seite von Konformisten, denen die Pflichterfüllung zum unbegrenzten und rüden Missionsauftrag wird. Das Gefühl, aus legitimer Aggression zu handeln, schmiedet beide Seiten viel enger zusammen, als es ihrem Selbstverständnis entspricht.“ Es gibt viele Gründe, warum Maßhalten mit den eigenen Emotionen heute nicht mehr die gleiche Rolle spielt wie in der Antike. Und von dort bis tief ins 20. Jahrhundert hinein. Gefühle gelten heute als legitim und bestimmen alles, vom privaten Gespräch bis zur medialen Berichterstattung. Stets geht es darum, wie ein Mensch etwas fühlt. Der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

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Der Staat muss seine Befugnisse begrenzen

Sicherheit und öffentlicher Frieden setzen voraus, dass der Staat die Gestaltung des individuellen Lebens in der Freiheit des Bürgers belässt. Und dass er im Freiheitsvertrauen auf die Redlichkeit und Tüchtigkeit seiner Bürger und Wähler seine eigenen Aufgaben und Befugnisse begrenzt. Paul Kirchhof erläutert: „Gemeinschaftliche Lebensbereiche wie die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Kunst, insbesondere das Familienleben bleiben in privater Hand.“ Diese Freiheit schafft Vielfalt. Sie setzt auf die Bereitschaft zum Wagnis, erwartet neue Entwicklungen, erlaubt Korrektur und Erneuerung auch im Prinzipiellen. Das Grundgesetz fordert vom Staat, dass er um des inneren Frieden willen die Frage nach der religiösen Wahrheit offenlässt. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg. Als Richter des Bundesverfassungsgerichts hat er an zahlreichen, für die Entwicklung der Rechtskultur der Bundesrepublik Deutschland wesentlichen Entscheidungen mitgewirkt.

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Die Revolution hat ihre Gegner

Anfangs war der Gedanke der „Brüderlichkeit“ in der Französischen Revolution frei von jeder Aggressivität. Der Revolutionär will den neuen, den besseren Menschen schaffen, der sich die Ziele der Revolution zu eigen macht. Deshalb arbeitet er in einer gemeinsamen Brüderlichkeit auf den Umsturz mit den Methoden der Revolution hin. Paul Kirchhof weiß: „Doch diese Revolution hat ihre Gegner: den König und sein Gefolge, die Aristokraten, das Feudalsystem, den hohen Klerus, schließlich alle Andersdenkenden.“ Dadurch wird die „Brüderlichkeit“ zu einem ausgrenzenden Begriff: „Jeder Franzose ist heute euer Bruder, bis er sich offen als Verräter am Vaterland erweist. Da die Aristokraten kein „Vaterland“ hätten, seien sie von vornherein vom Kreis der Brüder ausgenommen. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg.

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Bei der Selbstverteidigung gibt es das Problem der Ungleichheit

Viele der Linken behaupten zwar, an Gewaltlosigkeit zu glauben. Dennoch nehmen sie für die Selbstverteidigung eine Ausnahme in Anspruch. Manche Menschen meinen, dass das eine Selbst verteidigungswürdig ist, das andere aber nicht. Damit stellt sich für Judith Butler das Problem der Ungleichheit, dass sich aus der Rechtfertigung von Gewalt im Dienst der Selbstverteidigung ergibt. Leben zählen in dem Sinn, dass sie in der Sphäre der Erscheinung physisch Gestalt annehmen. Sie zählen auch deswegen, weil sie alle gleich geschätzt werden müssen. Und doch ist die Berufung auf Selbstverteidigung vonseiten derjenigen, die Macht ausüben, allzu oft nichts anderes als die Verteidigung dieser Macht. Gleichzeitig beanspruchen sie damit ihre Vorrechte und die von ihnen vorausgesetzten und geschaffenen Ungleichheiten. Judith Butler ist Maxine Elliot Professor für Komparatistik und kritische Theorie an der University of California, Berkeley.

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Der Staat übt rassistische Gewalt aus

Nach der Auffassung des Amerikanisten Chandan Reddy gründet der Staat in rassistischer Gewalt. Diese übt er nach wie vor systematisch gegen Minderheiten aus. In den Vereinigten Staaten und anderswo bezeichnet die Polizei People of Colour als „gewalttätig“. Selbst da, wo sie einfach weggehen oder weglaufen, sich beschweren wollen oder einfach nur tief schlafen. Judith Butler kritisiert: „Es ist schon sehr merkwürdig und empörend zu sehen, wie man Gewalt unter solchen Umständen rechtfertigt. Diejenigen, auf die sie abzielt, müssen als Bedrohung, selbst als Träger realer Gewalt dargestellt werden, damit tödliche Polizeieinsätze als Selbstverteidigung erscheinen können.“ Hat die fragliche Person überhaupt nichts sichtbar Gewalttätiges getan, galt sie einfach nur als gewalttätig. Judith Butler ist Maxine Elliot Professor für Komparatistik und kritische Theorie an der University of California, Berkeley.

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Helmut Walser Smith blickt auf den Bauernkrieg zurück

Der Bauernkrieg, der größte Aufstand in der europäischen Geschichte vor der Französischen Revolution, begann mit Revolten der Landbevölkerung im Südschwarzwald und im Bodenseeraum. Er breitete sich bis ins Allgäu und an den Oberrhein aus. Helmut Walser Smith weiß: „Schon bald nahm dieser Krieg sowohl religiösen als auch politischen Charakter an.“ Mit der Ausweitung der Aufstandsbewegung auf die Pfalz und Thüringen sowie Richtung Süden bis nach Tirol fand sie immer mehr Unterstützung, vor allem bei den Armen in den Städten. Anfang April 1525 waren nach Schätzungen heutiger Historiker nicht weniger als 300.000 Menschen bereit, gegen ihre Unterdrücker zu den Waffen zu greifen. Doch die Bauern waren den gut bewaffneten, kampferprobten Soldaten nicht gewachsen. Helmut Walser Smith lehrt Geschichte an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee.

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Intuitionen sind nicht gleichbedeutend mit Wissen

Das neue Philosophie Magazin 02/2023 diskutiert im Titelthema darüber, ob man seiner Intuition folgen oder eher auf die Kraft des Verstandes setzen sollte. Auf jeden Fall ist Vorsicht geboten, den Intuitionen sind nicht gleichbedeutend mit Wissen. Aber es gilt auch, wie Chefredakteurin Svenja Flaßpöhler in ihrem Editorial feststellt: „Ganz ohne Intuition wären wir heillos verloren. Die Intuition ist es, die uns in Situationen des Nichtwissens ein Kompass ist; die es uns ermöglicht, uns in einer komplexen, unübersichtlichen Welt zu orientieren; die uns befähigt, unseren eigenen, individuellen Weg zu gehen.“ Alltagssprachlich setzt man Intuition oft mit Bauchgefühl gleich. Doch ein Blick in die Philosophiegeschichte zeigt, dass diese Kraft weit mehr ist. Ja, vielleicht sogar etwas ganz anderes. Übersetzt meint dieses Wort lateinischen Ursprungs: unmittelbare Anschauung.

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Judith Butler analysiert Gewalt und Nichtgewalt

Argumente für oder gegen Gewaltlosigkeit setzen voraus, dass man möglichst zwischen Gewalt und Nichtgewalt differenziert. Es gibt aber keinen einfachen Weg zu einer stabilen semantischen Unterscheidung. Denn der Unterschied zwischen Gewalt und Nichtgewalt wird oft zur Verschleierung und Erweiterung gewaltsamer Ziele und Praktiken benutzt. Deshalb fordert Judith Butler zu analysieren, wie diese Festlegungen des Gewaltbegriffs funktionieren. Man muss dabei akzeptieren, dass manche Menschen die Begriffe „Gewalt“ und „Gewaltlosigkeit“ unterschiedlich und täuschend verwenden. Dabei sollte man auf keinen Fall der nihilistischen Annahme nachgeben, Gewalt und Gewaltlosigkeit sei eben das, was die Machthaber dafür ausgeben. Zu den Anliegen von Judith Butler gehört es, die Schwierigkeiten anzunehmen und zu einer tragfähigen Definition von Gewalt zu gelangen. Judith Butler ist Maxine Elliot Professor für Komparatistik und kritische Theorie an der University of California, Berkeley.

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Auf sprachliche Eskalation folgt wütender Protest

Als Manuel Macron zu Jahresbeginn 2022 davon gesprochen hat, Ungeimpften „auf die Nerven zu gehen“, hat er sprachliche oder strukturelle Gewalt gegen seine Staatsbürger angewendet. Als die Beschimpften sich mit Straßenprotesten dagegen wehrten, unterband man den Protest. Man verwies dabei auf die Gefährdung der öffentlichen Ordnung. Ulrike Guérot stellt fest: „Die – bewusste oder entglittene? – sprachliche Eskalation generiert also wütenden Protest, der dann der Vorwand ist, um staatlicherseits zu prügeln.“ Die Polizei wird zum Anwalt eines Systems, das sich im Recht glaubt. Ein Teufelskreis. Ein System, das strukturelle Gewalt anwendet, gewinnt immer. Zuvor war über Monate die Kommunikation zwischen Maßnahmenbefürworter und Gegner längst gerissen. Die einen haben eine scheinbare Mehrheit, die Wahrheit und die Moral sowieso. Seit Herbst 2021 ist Ulrike Guérot Professorin für Europapolitik der Rheinischen-Friedrichs-Wilhelms Universität Bonn.

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Es gibt nicht die eine Wahrheit

In den letzten zwei Jahren der Coronakrise sind viel Unwörter wie etwa Inzidenz, R-Wert oder 2G in den Lebensalltag gelangt. Sie prägen und regulieren seither das Zeitgeschehen. Ulrike Guérot erklärt: „Seit Neuestem bestimmen zwei Maximen das demokratische Miteinander, die in Demokratien eher unüblich sind: von der Wahrheit und der Pflicht.“ Der demokratische Staat geht – im Gegensatz zu totalitären Regimen oder Gottesstaaten – nicht davon aus, dass es eine Wahrheit gibt.“ Im Gegenteil: Er garantiert Glaubensfreiheit und verhandelt unterschiedliche Meinungen zu einem Thema in einem Diskurs. Die Pflicht ist in einer Demokratie in erster Linie die Einhaltung des Rechts. Das geltende Recht, vor allem die Grundrechte der Bürger, wurden wegen Corona für lange Zeiträume stark eingeschränkt. Seit Herbst 2021 ist Ulrike Guérot Professorin für Europapolitik der Rheinischen-Friedrichs-Wilhelms Universität Bonn.

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Der klassische Terrorismus hatte zwei Ausprägungen

Den „klassischen“ Terrorismus hat es in Europa seit dem 19. Jahrhundert gegeben. Er hatte vor allem zwei Ausprägungen. Nämlich eine sozialrevolutionäre Variante, wie sie im zaristischen Russland entstanden ist, und eine nationalseparatistische, etwa im Baskenland in Form der Untergrundorganisation ETA. Diese kämpfte mit Gewalt für eine Abspaltung der nordspanischen Region vom Mutterland. Edgar Wolfrum ergänzt: „Was des einen Terrorist war, war oftmals des anderen Freiheitskämpfer.“ Seit den 1970er Jahren kam eine äußerst gewalttätige Variante hinzu. Zum Beispiel in Gestalt der deutschen „Roten Armee Fraktion“ (RAF) oder den italienischen „Brigate Rosse“. Oft verbanden sich diese Gruppierungen mit dem internationalen Terrorismus der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO). Gewaltakte und Morde zielten auf herausgehobenen Personen der politischen Klasse oder der gesellschaftlichen Elite. Edgar Wolfrum ist Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg.

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Grausamkeit ist eine höchst entwickelte Kulturtechnik

Mit der Bestimmung der Grausamkeit gelingt Wolfgang Müller-Funk in seinem neuen Buch „Crudelitas“ ein erschütternder Blick auf einen verdrängten Aspekt der menschlichen Evolution. Seine aus dem intimen Dialog mit der Literatur gewonnenen Einsichten zeigen Wege auf, ihre Verlockungen zurückzuweisen. Es dürfte die Grausamkeit eigentlich nicht geben, dort, wo es menschlich zugehen soll. Sich mit dem düsteren Sujet zu beschäftigen, bedroht die eigene Befindlichkeit. Es zieht einen hinab in die Hölle eines Unaussprechlichen, das in Religion und Metaphysik als das Böse schlechthin bezeichnet worden ist. Der Schrecken vor der Grausamkeit führt jedoch leicht dazu, sie zu verkennen. Wolfgang Müller-Funk war Professor für Kulturwissenschaften in Wien und Birmingham und u.a. Fellow an der New School for Social Research in New York und am IWM in Wien.

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Identität kann auch töten

Ein Identitätsgefühl kann eine Quelle nicht nur von Stolz und Freude, sondern auch von Kraft und Selbstvertrauen sein. Es überrascht Amartya Sen nicht, dass die Idee der Identität so allgemeine Zustimmung erfährt. Vom Grundsatz der Nächstenliebe bei den kleinen Leuten bis hin zu den anspruchsvollen Theorien des sozialen Kapitals und der kommunitaristischen Selbstdefinition. Und dennoch kann Identität auch töten und zwar hemmungslos töten. Ein starkes und exklusives Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe kann in vielen Fällen mit der Wahrnehmung einer Distanz und Divergenz zu anderen Gruppen einhergehen. Amartya Sen weiß: „Solidarität innerhalb der Gruppe kann Zwietracht zwischen Gruppen verstärken.“ Amartya Sen ist Professor für Philosophie und Ökonomie an der Harvard Universität. Im Jahr 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie.

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Der Liberalismus orientiert sich am Ideal der Freiheit

Der Liberalismus sieht seine Hauptaufgabe in der Beschränkung der Zwangsgewalt jeder Regierung. Dementsprechend verantwortet er einen zuverlässigen Inhalt der Gesetze. In der Demokratie dagegen geht es im Grundsatz um das Verfahren, in dem man bestimmt, was als Gesetz zu gelten hat. Also geht es unter anderem um die Regierungsform der Herrschaft der Mehrheit. Friedrich A. Hayek versteht den Liberalismus als eine politische Lehre, die Ziele und Aufgaben des Staates vorschlägt. Dabei orientiert er sich am Ideal der Freiheit. Katia Henriette Backhaus ergänzt: „Demokratie ist für ihn hingegen ein politisches Verfahren, ein Mittel, um die Meinung der Mehrheit zur Geltung zu bringen.“ Katia Henriette Backhaus hat an der Universität Frankfurt am Main im Bereich der politischen Theorie promoviert. Sie lebt in Bremen und arbeitet als Journalistin.

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Einparteienstaaten fördern Scharlatane und Narren

Die schlimmsten Einparteienstaaten sind diejenigen, die unerbittlich alle Talente und Begabungen durch Scharlatane und Narren ersetzen. Ihre Dummheit und ihr Mangel an Einfällen sind so lange die Bürgschaft für die Sicherheit des Regimes, als dieses noch nicht seine eigene Funktionärsschicht herangezogen hat. Lenins Verachtung für die Vorstellung von einem neutralen Staat, einer unpolitischen Beamtenschaft und neutralen Medien war ebenfalls ein wichtiger Bestandteil seines Einparteiensystems. Anne Applebaum weiß: „Die Pressefreiheit bezeichnete er als Täuschung und die Versammlungsfreiheit als leeres Gerede. Die parlamentarische Demokratie war für nichts als eine Maschinerie zur Unterdrückung der Arbeiterklasse.“ Die Presse konnte nur frei und staatliche Institutionen nur fair sein, wenn sie der Kontrolle der Arbeiterklasse oder genauer gesagt der Partei unterstanden. Anne Applebaum ist Historikerin und Journalistin. Sie arbeitet als Senior Fellow an der School of Advanced International Studies der Johns Hopkins University.

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Gewaltlosigkeit sollte überall herrschen

Steht derjenige, der Gewaltlosigkeit praktiziert, in Beziehung zu demjenigen, gegen den Gewaltanwendung erwogen wird, dann scheint zwischen beiden ein vorgängiger sozialer Bezug zu stehen. Sie sind Teil voneinander, das eine Selbst ist im anderen impliziert. Judith Butler erläutert: „Gewaltlosigkeit wäre dann eine Weise, diesen Bezug anzuerkennen, so belastet er auch sein mag. Und auch die normativen Zielsetzungen zu bejahen, die sich aus diesem schon bestehenden sozialen Bezug ergeben.“ Daher kann eine Ethik der Gewaltlosigkeit nicht in Individualismus gründen. Sondern sie muss eine führende Rolle in der Kritik des Individualismus als Basis sowohl der Ethik als auch der Politik spielen. Eine Ethik und Politik der Gewaltlosigkeit müssen der wechselseitigen Weise Rechnung tragen, die das Leben der Selbste miteinander verbindet. Judith Butler ist Maxine Elliot Professor für Komparatistik und kritische Theorie an der University of California, Berkeley.

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Christopher Clark kennt die Geschichte der Mächte

Die Geschichte der Mächte konnte sich unter der Rubrik Disruption und Wandel entfalten.“ „Zerbrechlichkeit und Instabilität sind untrennbar mit den Werken der Menschen verbunden“. Das schrieb Friedrich II. von Preußen im Jahr 1751. Und das sei auch gut so, glaubte der König. Denn wenn es keine großen Unruhen gebe, gebe es „auch keine großen Ereignisse.“ Der von Aufstieg und Niedergang, den die großen Mächte der Weltgeschichte beschrieben, erinnerte den König an die regelmäßigen Bewegungen der Planeten. Christopher Clark fügt hinzu: „Die Untersuchung der Laufbahn großer Staaten handelte somit von der Veränderlichkeit und Unbeständigkeit von Macht. Die Hegemonie jedes einzelnen Staates war stets befristet.“ Die mächtigen Reiche des Altertums im Nahen Osten, in Griechenland und Rom sind inzwischen nur noch Ruinen. Christopher Clark lehrt als Professor für Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine`s College in Cambridge.

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Christopher Clark kennt die Formen der Macht

Natürlich ist nicht jede Form von Macht gleich Regierungsgewalt. Doch der Aufstieg und/oder Niedergang von Regierungen zählt zu den zentralen europäischen Geschichten über Macht. Max Weber erkannte in den Beamten die Inhaber eines „Monopols legitimer, physischer Gewaltsamkeit“. Christopher Clark ergänzt: „Es kann zu einer Konzentration der Macht in Regierungen, Staaten und Bürokratien kommen, aber sie kann sich auch wieder zerstreuen.“ Einst gab es eine Welt, in der die gesamte Macht in Gestalt lokal begrenzter persönlicher Adelsherrschaft ausgeübt wurde. Aufgrund der Notwendigkeit, die Auswüchse ausbeuterischer und gewaltsamer Formen lokaler Herrschaft einzudämmen, entwickelten sich neue Regierungsformen. Das Beharren auf den Adelsprivilegien verdrängte die „Anerkennung eines kollektiven Interesses“. Christopher Clark lehrt als Professor für Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine`s College in Cambridge.

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Die große Lüge ist auf Gewalt angewiesen

Von George Orwell bis Arthur Koestler waren europäische Autoren des 20. Jahrhunderts besessen vom Gedanken der großen Lüge. Dabei handelt es sich um das ideologische Gebäude des Kommunismus und des Faschismus. Da gab es die Plakate, die Treue gegenüber Partei und Führer verlangten, die marschierenden Braun- und Schwarzhemden, die Fackelzüge und die Geheimpolizei. Anne Applebaum weiß: „Die große Lüge war derart absurd und unmenschlich, dass sie nur mit Gewalt durchzusetzen und aufrechtzuerhalten war.“ Sie verlangte Zwangsbildung, absolute Kontrolle über die Natur und die Instrumentalisierung von Journalismus, Sport, Literatur und Kunst. Die polarisierenden politischen Bewegungen des 21. Jahrhunderts brauchen dagegen keine Massenbewegung. Anne Applebaum ist Historikerin und Journalistin. Sie arbeitet als Senior Fellow an der School of Advanced International Studies der Johns Hopkins University.

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