Die Globalisierung löste eine Umverteilung aus

Die Globalisierung und neue Technologien wie Digitalisierung spalten laut Alexander Hagelüken den deutschen Arbeitsmarkt, schrumpfen die Mittelschicht und treiben die Einkommen auseinander. Die Globalisierung lässt Arbeitsplätze verschwinden wie beispielsweise jene in Schuhfabriken. Sie trifft Arbeitnehmer, die den gut ausgebildeten, aber trotzdem günstigen Asiaten oder Osteuropäern unterliegen. In Deutschland wirkte sich besonders der Fall des Eisernen Vorhangs aus, sagt Joachim Möller, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Bis zur Wende nahmen die Reallöhne nämlich zu. Dann kam die Konkurrenz, etwa tschechische Arbeiter, die anfangs ein Zehntel deutscher Löhne verdienten. Joachim Möller erklärt: „Es wurden Arbeitsplätze verlagert. Vor allem wirkte die Drohung mit der Verlagerung: Das reichte schon, um in Deutschland niedrige Löhne durchzusetzen. Das veränderte die Machtverhältnisse zugunsten der Arbeitgeber.“ Alexander Hagelüken ist als Leitender Redakteur der Süddeutschen Zeitung für Wirtschaftspolitik zuständig.

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Wir alle sind Gefangene der Zeit

In 13 Essays zeigt Christopher Clark in seinem neuen Buch „Gefangene der Zeit“ wie sehr historische Ereignisse und Taten über die Zeiten hinweg fortwirken. An den Vorstellungen von Macht und Herrschaft hat sich bis heute wenig geändert. Die Religion, politische Macht und das Bewusstsein der Zeit sind für Christopher Clark prägende Säulen der neueren europäischen Geschichte. Die religiöse Tradition ordnet dabei das menschliche Bestreben in den größtmöglichen Kompass ein. Politische Macht verbindet Kultur, Wirtschaft und Persönlichkeit mit Entscheidungen, die eine große Anzahl von Menschen betreffen. Die Zeit schließlich wird von Narrativen, religiösen ebenso wie säkularen, konstruiert und geformt. Sie verrät, wie die Präsenz von Macht, in welcher Form auch immer, das menschliche Bewusstsein und den Sinn für Geschichte prägen. Christopher Clark lehrt als Professor für Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine`s College in Cambridge.

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Josef Joffe bewundert Konrad Adenauer

Als Erstes sagte der beinharte Realist Konrad Adenauer dem Traum von der Wiedervereinigung Deutschlands schon im Herbst 1945 (!) Ade: „Der russisch besetzte Teil ist erst einmal für Deutschland verloren“. Kurz darauf formulierte der Kanzler der Verlierer, was zur Politik des Westens werden sollte, bevor dieser es selber wusste: „Deutschland diesseits der Elbe ist ein integrierender Teil Westeuropas“. Frankreich bat er, nicht das Ruhrgebiet zu internationalisieren, denn das würde unheilvolle Erinnerungen an die Ruhrbesetzung von 1923 wecken und Revanchegelüste befeuern. Es gebe einen besseren Weg, die Sicherheitsängste der Nachbarn zu dämpfen: die „wirtschaftliche Verflechtung“ auf dem Weg zur „Union der westeuropäischen Staaten“. Josef Joffe ergänzt: „Wie es denn auch 1952 mit der Kohle- und Stahlgemeinschaft (EGKS) geschah, welche die klassischen Ressourcen der Kriegsführung europäisierte. Josef Joffe ist seit dem Jahr 2000 Herausgeber der ZEIT.

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Deutschland braucht eine neue kollektive Identität

Eher links orientierte Intellektuelle und Politiker haben in den vergangenen Jahren einige Vorschläge gemacht, den Verfassungspatriotismus mit klassischen linken Anliegen wie Solidarität und Ökologie anzureichern. Im Jahr 2016 erschien das Buch „Die neuen Deutschen. Ein Land vor seiner Zukunft“ des Professorenehepaars Marina und Herfried Münkler. Sie ist Literaturwissenschaftlerin und hat als solche ausgiebig zum Begriff des „Fremden“ und zur Interkulturalität geforscht. Er ist der wohl bekannteste deutsche Politologe. Seine Bücher über „Die Deutschen und ihre Mythen“, den Ersten Weltkrieg oder zuletzt über den Dreißigjährigen Krieg sind regelmäßig weit oben auf den Bestsellerlisten zu finden. Thea Dorn weiß: „Gleich zu Beginn von „Die neuen Deutschen“ stellt das Autorenpaar fest, es sei in Deutschland höchste Zeit über die eigene Kollektividentität neu nachzudenken.“ Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

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Vielschichtige Trauer verbindet und trennt

Die „Unfähigkeit zu trauern“ ist „den Deutschen“ nach 1945 immer wieder vorgeworfen worden. Für Michael Wolffsohn sind das kollektive und deshalb wertlose Schablonen. Auf der politisch-geschichtlichen Ebene gilt seine Sympathie jenen, die gegen Adolf Hitler Krieg geführt haben und dabei Deutsche, viele, sehr viele unschuldige Deutsche töten mussten. Subjektiv haben auch die unschuldigen Deutschen gelitten, sie wurden geschunden, missbraucht und getötet. Objektiv haben diese Unschuldigen ein verbrecherisches Regime gestützt, das nicht zuletzt die Familie von Michael Wolffsohn und seine jüdischen Glaubensgenossen verfolgte, vernichtete und vergaste. Diese vielschichtige Trauer über die Vergangenheit verbindet Michael Wolffsohn mit den Deutschen, und sie trennt sie zugleich. Prof. Dr. Michael Wolffsohn war von 1981 bis 2012 Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München.

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In Deutschland ist der Rechtspopulismus ein Problem

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben die Familien in Deutschland viel Rückenwind gehabt. Der damit verbundene fürsorgliche Umgang mit den Kindern macht den Neuen Rechten jetzt tatsächlich zu schaffen. Herbert Renz-Polster erklärt: „Die Alternative für Deutschland (AfD) ihr Problem selbst: Es fehlt der politische Nachwuchs. Es fehlen aber auch die Frauen.“ In den meisten Bundesländern stimmen nicht einmal sieben Prozent der Frauen für die AfD. Damit wird man keine Gesellschaft umbauen können. Man könnte es auch so sagen: Ja, in Deutschland gibt es ein Problem mit dem Rechtspopulismus, aber es gibt hierzulande auch einen wunderbaren Schutz. Den effektivsten und einzig nachhaltigen, den es gibt: Kindheitsressourcen. Der Kinderarzt Dr. Herbert Renz-Polster hat die deutsche Erziehungsdebatte in den letzten Jahren wie kaum ein anderer geprägt.

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Edgar Wolfrum kennt die deutsche Vergangenheit

Die Berufung auf die deutsche Vergangenheit erlaubte es der Bundesrepublik Deutschland immer wieder, schwierige bündnispolitische Entschlüsse gemäß innenpolitischer Opportunität und innerdeutschen Meinungslagern zu fassen. Das Ausland erkannte jedoch darin einen Zug von Unberechenbarkeit. War Deutschland eine Weltmacht wider Willen? Edgar Wolfrum erläutert: „Pazifisten fanden es moralisch empörend, dass Deutschland überhaupt Waffen baute und sie verkaufte. Dagegen verwiesen die Prediger des Pragmatismus auf internationale Verpflichtungen.“ Zu einer Außenpolitik, die seiner Größe und Bedeutung entsprach, fand Deutschland offenbar nicht. Bundespräsident Horst Köhler stolperte 2010 aus dem Amt. Nur weil er eine unerhörte Selbstverständlichkeit angesprochen hatte: dass es zwischen Militäreinsätzen und wirtschaftlichen Interessen Verbindungen gebe. Deutschland blieb ein Land, das zwar zu den Motoren der globalen Ökonomie zählte. Aber es verweigerte jedoch die daraus resultierende Rolle beharrlich. Edgar Wolfrum ist Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg.

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Das Vertrauen befindet sich weltweit in einer Krise

Jede Studie über Vertrauen fängt mit der großen Krise an. Das einflussreiche „Edelman Trust Barometer“ formuliert 2017 unumwunden: Überall auf der Welt befindet sich das Vertrauen in einer Krise. Martin Hartmann erläutert: „Ob Unternehmen, Regierungen, Nichtregierungsorganisationen oder die Medien – fast überall leiden diese Institutionen unter einem Vertrauensschwund.“ Entsprechend dramatisch und alarmistisch sind die Formulierungen: Das „System“ sei zerbrochen. Die Führungsebenen in Wirtschaft und Politik hätten an Glaubwürdigkeit verloren. Eine Welt des Misstrauens breite sich aus. Für die Daten von 2017 gilt dabei folgende Auffälligkeit: Vor allem die allgemeine Bevölkerung verliert ihr Vertrauen, während die Daten der Meinungsführer stabil bleiben oder sogar steigen. Die Diskrepanz zwischen den Eliten und der Bevölkerungsmehrheit bleibt hoch und scheint sich sogar zu vergrößern. Martin Hartmann ist Professor für Praktische Philosophie an der Universität Luzern.

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Die Verfassung sichert den deutschen Rechtsstaat

Ohne Zweifel braucht es zur Gewährleistung der Freiheitsrechte und als Riegel sowohl gegen rechtliche Privilegien als auch gegen Diskriminierung und Korruption den Rechtsstaat. Otfried Höffe ergänzt: „Erst mit seiner Hilfe wird die Gefahr von Willkür eingedämmt und werden die Behörden und die Gerichte einer wirksamen Kontrolle unterworfen.“ Mangelt es an Rechtsstaatlichkeit kann es sehr schwierig werden, seinen Anstand und seine Würde zu wahren. Zu dem dann erforderlichen hohen Maß an Raffinesse und Courage, oft sogar Heroismus ist weder jeder bereit noch fähig. Hier tritt der Rechtsstaat auf den Plan, denn er erlaubt auch den gewöhnlichen Menschen, in Rechtschaffenheit und Selbstachtung zu leben. Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und lehrte in Fribourg, Zürich und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.

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Nationalstaaten sind oftmals reißende Bestien

Das einzige Mittel die deutsche Gesellschaft vor einer noch gravierenderen und irgendwann nicht mehr zu kontrollierenden Spaltung zu bewahren, scheint für Thea Dorn das Bekenntnis zur Nation zu sein. Und zwar nicht in einem völkisch-ethischen, sondern in einem verfassungsrechtlichen, sozialsolidarischen und kulturellen Sinn. Thea Dorn weiß: „Nationalstaaten sind keine Lämmer. Oft genug haben sie bewiesen, dass sie zu reißenden Bestien werden können. Und beweisen es in manchen Regionen der Welt noch immer.“ Andererseits ist es in der Menschheitsgeschichte bisher keinem Gesellschaftsmodell außer dem Nationalstaat gelungen, einen verlässlichen Rahmen für Menschen- und Bürgerrechte zu bieten. Die extrem kleinen Stadtstaaten im antiken Griechenland glichen eher erweiterten Familienverbänden, in denen nahezu jeder Bürger mit jedem verwandt war. Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

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Die Wiedervereinigung machte Deutschland zur Großmacht

Mit der Wiedervereinigung von 1990 hat sich die Bundesrepublik verändert. Sie ist territorial größer und bevölkerungsreicher geworden. Und gleichsam über Nacht ist dieses neue Deutschland, die Berliner Republik, in die Rolle einer kontinentalen Großmacht mit weltpolitischem Gewicht gerutscht. Auch die Selbstdarstellung der Bundesrepublik Deutschland wandelte sich allmählich. Dadurch machten sich in Europa Ängste breit, wie dieser bis dahin relativ „gütige Hegemon“ agieren werde. Edgar Wolfrum fügt hinzu: „Gleichzeitig wiesen weltweite Umfragen darauf hin, dass Deutschland zum beliebtesten Land der Welt geworden sei, eine Entwicklung, die 1945 völlig unvorstellbar gewesen war.“ Auf dem Land selbst lasteten die Probleme der „inneren Einheit“. Deutschland war ein zwischen Ost und West gespaltenes Land. Edgar Wolfrum ist Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg.

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Der Krieg legitimierte alles

Der Krieg war das ureigenste Moment des Nationalsozialismus. Die Abwägung von Interessen, die schwierige Organisation einer vielgestaltigen modernen Industriegesellschaft, die Verwaltung des Mangels, der Ausgleich von Widersprüchen – das alles schien nun obsolet. Ulrich Herbert erklärt: „Fortan ging es nur noch um Sieg oder Niederlage, Triumph oder Untergang. Das vereinfachte alles und legitimierte alles. Ethische Normen, geschriebene Gesetze, internationale Verpflichtungen konnte man fortan ignorieren, wenn es nur dem Sieg diente.“ Auch jenseits des Militärischen unterschied sich dieser Krieg von allen bisherigen. Schon vor dem Einmarsch in Polen hatte Adolf Hitler betont, es gehe gar nicht um Danzig: „Es handelt sich für uns um die Arrondierung des Lebensraums im Osten.“ Ulrich Herbert zählt zu den renommiertesten Zeithistorikern der Gegenwart. Er lehrt als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.

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Der erste deutsche Patriotismus war nicht politisch

Das Unheil, in welches sich die deutsche Nation in den Jahren zwischen 1933 und 1945 verrennen sollte, ist laut Thea Dorn nur zu begreifen, wenn man sich klarmacht, was in den Jahren um 1800 in Deutschland passiert ist. Die Patrioten der deutschen Aufklärung hielten ein politisch vereintes Deutschland für keine realistische Option. Ihr Idealismus hatte deshalb so milde, menschenfreundliche Züge, weil er im Kern unpolitisch war. Beim ersten deutschen Patriotismus hat es sich um keine genuin politische Bewegung gehandelt, die für ein konkretes nationalstaatliches Ziel gekämpft hätte. Sondern es ging ihr vor allem um die „Tugendhaftigkeit“ und um die „moralische Emphase“. Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

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Deutschland hat seit 1990 eine beispiellosen Aufstieg hingelegt

Edgar Wolfrum erzählt in seinem neuen Buch „Der Aufsteiger“ die Geschichte Deutschlands von 1990 bis heute. Dabei handelt es sich um die erste historische Gesamtdarstellung der Berliner Republik. Eindringlich benennt der Autor die neuen Herausforderungen, Probleme und Erfolge der Innenpolitik, Sozialkultur und Außenpolitik. Nach der Wiedervereinigung von 1990 hat sich die Bundesrepublik zu einer kontinentalen Großmacht mit weltpolitischem Gewicht entwickelt. Um das Neue und den Wandel beim Aufstieg Deutschlands sichtbar zu machen, zieht Edgar Wolfrum immer wieder Vergleiche zur „alten“ Bundesrepublik heran. Das Neue reicht dabei von schleichenden Veränderungen im Parteiensystem oder der gesellschaftlichen Erregung bis hin zu den großen Fragen wie Krieg und Klimawandel. Trotz aller Probleme erscheint heutzutage Deutschland noch immer als ein stabiles Land. Vieles ist geglückt, und in vielem haben die Deutschen wiederum einfach nur Glück gehabt. Edgar Wolfrum ist Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg.

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Für viele Menschen ist nur die eigene Religion die einzig wahre

Wenn man akzeptiert, dass eine Religion etwas Besonderes ist, das nicht unbedingt eines besonderen Schutzes bedarf, aber sowohl zur Freiheit als auch zur Rede in einer besonderen Beziehung steht, muss man entscheiden, was als eine Religion gilt. Timothy Garton Ash erläutert: „Für viele Menschen in der ganzen Menschheitsgeschichte und nicht wenige in unserer Zeit gab und gibt es nur eine wahre Religion: die eigene. Alles andere ist und wahr Ketzerei oder Aberglaube.“ Doch es gibt auch begrenzte gegenseitige Anerkennung, etwa zwischen Christentum, Judentum und Islam. Nach einem eher pragmatischen und säkularen Verständnis von Religion werden alle Gemeinschaften mit einer erheblichen Zahl von Anhängern, die sich als religiöse Gruppe oder in Bezug auf eine Religion definieren, als Religion anerkannt. Timothy Garton Ash ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University.

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Konrad Adenauer revolutionierte die deutsche Außenpolitik

Schon ein halbes Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und vier Jahre vor seiner Spätkarriere als Gründungskanzler der Bundesrepublik, hatte Konrad Adenauer die neue Konstellation in Europa realisiert: „Russland hat in Händen die östliche Hälfte Deutschlands, Polen, den Balkan, anscheinend Ungarn, einen Teil Österreichs. Russland entzieht sich immer mehr der Zusammenarbeit mit den anderen Großmächten und schaltet in den von ihm beherrschten Gebieten völlig nach eigenem Gutdünken.“ Für ihn war somit die Trennung in Osteuropa, das russische Gebiet, und Westeuropa eine Tatsache. Andreas Rödder stellt fest: „Konrad Adenauer erkannte die Chancen für Westdeutschland, das er im Oktober 1945 etwas umständlich als „nicht von Russland besetzten Teil Deutschlands“ bezeichnete.“ Seit 2005 ist Andreas Rödder Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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Ungewissheit zählt zur Grunderfahrung des Menschen

Sehr viele Menschen leben heute in Gesellschaften, in denen sich Veränderung mit einer so hohen Geschwindigkeit vollziehen, dass sie den Überblick zu verlieren drohen. Frühere Gesellschaften boten ihren Mitgliedern bei allen stürmischen Entwicklungen und Zumutungen immer noch einen relativ stabilen Orientierungs- und Entfaltungsrahmen, der für Überblick, Strukturierung, Klarheit, Abschätzbar- und Überschaubarkeit der individuellen Lebensführung einigermaßen Sorge trug. Ernst-Dieter Lantermann erklärt: „Diese Lebensgewissheiten kann eine moderne Gesellschaft nicht mehr leisten. Ungewissheit und Unsicherheit sind zu Grunderfahrungen von uns allen geworden, ob wir dies nun gutheißen oder nicht.“ Der Historiker Heinrich August Winkler spricht von einem „Zeitalter der allgemeinen Verunsicherung“, der Philosoph Zygmunt Baumann von einer „fluiden“ Gesellschaft, in der alles im Fluss sei und keine Stabilitäten mehr Geltung hätten. Ernst-Dieter Lantermann war von 1979 bis 2013 Professor für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie an der Universität Kassel.

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Die neue Völkerwanderung steht seit 2015 auf der politischen Agenda

Das erste Ziel der Wanderungsbewegung nach Europa in großem Stil war Italien. Hans-Peter Klein blickt zurück: „Als im Jahr 2011 der libysche Staat des Diktators Gaddafi zerschlagen wurde und das Land in Bürgerkriegswirren versank, setzte die Flucht über das Mittelmeer ein. Bald schlugen Hilfsorganisationen, die Kirchen und einige E-Medien Alarm.“ Dabei beunruhigte nicht so sehr die Erwartung eines kaum zu bewältigenden Ansturms von Flüchtlingen, sondern vielmehr, dass viele von ihnen der Schleuserkriminalität auf der Mittelmeerroute zum Opfer fielen. Seit 2013 berichtete das Fernsehen erst sporadisch, dann häufiger und alarmierend über die unglaublichen Vorgänge: Massenflucht übers Mittelmeer, gesteuert durch Schleuserbanden, schreckliche Havarien, unmögliche Zustände in den italienischen Aufnahmelagern und weitgehende hilflose Behörden in Rom und bei der EU in Brüssel. Hans-Peter Schwarz zählt zu den angesehensten Politologen und Zeithistorikern in Deutschland.

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Gated Communities sind auch in Deutschland auf dem Vormarsch

Nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland werden Gated Communities oder geschlossene Wohnkomplexe immer beliebter. Bis vor wenigen Jahren war diese Wohnform hierzulande noch weitgehend unbekannt. Wohnsoziologen und Kulturgeografen, die sich mit diesem Phänomen beschäftigen, sind sich sicher, dass die Entwicklung hin zu abgeschlossenen Wohnen auch in Deutschland kaum aufzuhalten sein wird. Ernst-Dieter Lantermann erklärt: „ Geschlossene Wohnkomplexe sind abgeschirmte und bewachte Wohnkomplexe mit Zugangsbeschränkungen, die in zwei Varianten gebaut werden – als Apartmentanlagen oder als Ensembles von Häusern und Eigentumswohnungen auf einem von der näheren Umgebung abgesonderten Territorium.“ „Arcadia“, die deutschlandweit erste Gated Community wurde in Potsdam errichtet, 45 Wohnungen und sieben Villen stehen auf einem parkähnlichen Grundstück in bester Lage. Ernst-Dieter Lantermann war von 1979 bis 2013 Professor für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie an der Universität Kassel.

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Der Glaube an das Individuum ist ein kulturell tief verankerter

Thea Dorn betont, dass der Glaube ans Individuum und seine unveräußerlichen Rechte eben kein universeller, sondern ein kulturell tief verankerter und damit spezieller Glaube ist. Er nahm seine ersten Anfänge in der griechischen Philosophie und Kunst, entwickelte sich durch das Christentum und das Römische Recht, durch die Renaissance und den Protestantismus weiter, bis er in der Neuzeit, durch die hellen Köpfe der Aufklärung und die freiheitsliebenden Revolutionäre in England, Frankreich und Amerika, zum leitenden Welt- und Rechtsbild des Westens wurde. Wenn man für dieses Bild in der restlichen Welt werben will, bleibt einem nichts anderes übrig, als Ausschau nach Kulturen zu halten, in denen sich der Glaube an das Individuum und seine unveräußerlichen Rechte zumindest in Ansätzen entdecken lässt. Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

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Das Grundgesetz hält Deutschland zusammen

Das Grundgesetz Deutschlands ist eine großartige Errungenschaft, auf welche die Deutschen stolz sein können. Hier sind die Werte festgeschrieben, auf das Land zusammenhalten. Georg Pieper erläutert: „Sie garantieren, dass jeder sagen kann, was er denkt; lieben kann, wen er will; glauben kann, an wen oder was er mag; sein Leben gestalten kann, wie es seinen Vorstellungen entspricht.“ Sich dazu zu bekennen ist nicht nur eine Voraussetzung für den gesellschaftlichen Frieden, sondern kann noch dazu dem Einzelnen sehr viel Stärke geben. Das ist für Georg Pieper einer der wichtigsten Wege, Ängste in etwas Positives umzuwandeln. Auch die Mehrzahl der Mitbürger islamischen Glaubens empfindet eine klare Loyalität zum Grundgesetz. Gerade wenn sie Erfahrungen mit restriktiven politischen Systemen gemacht haben. Dr. Georg Pieper arbeitet als Traumapsychologe und ist Experte für Krisenintervention.

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Europa bestimmt seine eigene Identität

Das Zeitalter der Aufklärung ist nicht nur selbst ein sich über den gesamten europäischen Kontinent erstreckendes Phänomen, es entwickelt auch als erste Epoche ein eigenständiges Bild von Europa als zivilisatorisches Gebilde. Wenn aufklärerisches Selbstverständnis und europäisches Bewusstsein der „philosophes“ (Aufklärer) in der Folge eine enge Verbindung eingehen, dann vor allem deshalb, weil die Aufklärer sich selber als eine genuin europäische Bewegung definieren, ebenso wie umgekehrt Europa von ihnen gerade als der geschichtliche Raum verstanden wird, der seit dem 16. Jahrhundert von dem Prozess der Aufklärung erfasst worden ist. Der Diskurs über Europa im Zeitalter der Aufklärung kann als Ausdruck eines spezifisch europäischen Bedürfnisses begriffen werden, die eigene Identität in Abgrenzung zur außereuropäischen Welt zu bestimmen. Im deutschen Sprachraum des 18. Jahrhunderts ist das Bild von Europa in erster Linie politischer Natur.

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Kaiser Wilhelm II. glaubte an ein deutsches Weltreich

Die Reichsgründung von 1871 veränderte die Wahrnehmung Deutschlands in den Nachbarländern entscheidend. Außerhalb des Landes trat das Bild des gemütlichen, rückständigen Deutschen zurück, das Madame de Staël Anfang des 19. Jahrhunderts gezeichnet hatte. Andreas Rödder stellt fest: „Übrig blieben ambivalente Deutschlandbilder, die sich um deutschen Militarismus und Expansionismus einerseits und um die Leistungen deutscher Wissenschaft und Kultur andererseits gruppierten.“ Um die Jahrhundertwende setzte dann ein Prozess der zunehmenden Entdifferenzierung, Reduzierung und Pauschalisierung ein, der in eindeutig negative Wahrnehmungen mündete. Dem entsprachen auf deutscher Seite zunehmend einseitige und immer nationalistischere Selbstbilder. Beide Entwicklungen drehten sich wie zwei Spiralen ineinander, wobei der Höhepunkt mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges erreicht wurde. Seit 2005 ist Andreas Rödder Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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Jeder vierte Deutsche zählt zu den Geringverdienern

In Deutschland gilt jedes vierte Beschäftigungsverhältnis als prekär, also gering bezahl und unsicher. Betroffen sind vor allem Menschen mit Teilzeit-, Minijobs oder Kettenverträgen, also als atypisch bezeichneter Beschäftigungsverhältnisse. Auch manche gut ausgebildete müssen solche Arbeitsbedingungen hinnehmen. Caspar Dohmen stellt fest: „Beim Vergleich von 17 EU-Ländern wies nur Litauen einen höheren an Geringverdienern auf als Deutschland.“ Weitsichtig war die Prognose des Soziologen Ulrich Beck in den 90er-Jahren, der von dem „Risikoregime“ der Arbeit sprach, das zu einer Auflösung aller „Basisselbstverständlichkeiten im Zentrum der Erwerbsgesellschaft“ führen würde. Viele Menschen erleben das heutzutage hautnah. Viele wissen nicht mehr, ob und wie sie auf ihrem Job oder ihrer Qualifikation eine Zukunft aufbauen können. Jeder ist ein potentieller Arbeitsloser. Der Wirtschaftsjournalist, Buchautor und Dozent Caspar Dohmen studierte Volkswirtschaft und Politik in Köln.

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Das Grundgesetz sichert die Menschenwürde

Das gesamte Recht in Deutschland berücksichtigt die wichtigsten Grundwerte der Gesellschaft – Menschenwürde, Menschlichkeit und die Gleichheit aller. Jens Gnisa ergänzt: „Das Grundgesetz als oberstes Gesetz sichert das allen Bürgern zu. Jedes andere Gesetz hat diese Werte zu beachten, darüber wacht das Bundesverfassungsgericht.“ Auch die Behörden haben sie bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen, ebenfalls die Gerichte, wenn sie deshalb angerufen werden. Auf jeder dieser Stufen wird als die Menschenwürde streng beachtet. Den Vorstellungen des Rechts folgend, ist nach einer rechtskräftigen und abschließenden Entscheidung gar kein Platz mehr dafür, dass gesellschaftliche Gruppen diese Ergebnisse infrage stellen. Es ist gesetzt und soweit unantastbar. Dies gilt selbstverständlich auch im Ausländerrecht. Jens Gnisa ist Direktor des Amtsgerichts Bielefeld und seit 2016 Vorsitzender des Deutschen Richterbundes.

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