Konrad Paul Liessmann kennt die Kraft der Fiktion

Alle Formen der Höflichkeit beruhen auf einer Fiktion, auf einem „So tun als ob“. Konrad Paul Liessmann erklärt: „Wir tun so, als ob es uns interessierte, wie es einem anderen geht, wie dessen Urlaub war, was seine Kinder machen. Täten wir nicht so als ob, hätten wir einander entweder nichts oder viel zu viel zu sagen.“ Dass man so tut als ob, und dass dabei alle mitspielen, ist die Vorbedingung dafür, dass Menschen in eine produktive Interaktion treten können. Man muss einander ein wechselseitiges Interesse unterstellen, damit man seine tatsächlichen Interessen zur Sprache bringen kann. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Philosophie an der Universität Wien. Zudem arbeitet er als Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist. Im Zsolnay-Verlag gibt er die Reihe „Philosophicum Lech“ heraus.

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Die Logik ist eine Wissenschaft

Die Logik ist die Lehre von der Verhältnisbestimmung zwischen Gedanken. Markus Gabriel erläutert: „Das altgriechische Wort „logos“ hat eine Bedeutungsspannweite, die Verhältnis, Maß, Aussage, Sprache, Denken, Rede, Wort und Vernunft umfasst.“ Platon und Aristoteles haben die Logik als Wissenschaft etabliert. Es geht dabei um die Frage, wie verschiedene Gedanken zusammenhängen sollen, wenn man etwas Neues durch reine Gedankenverknüpfung erkennen will. Deswegen beschäftigt sich die Logik traditionell mit den drei Themen Begriff, Urteil und Schluss. Ein Begriff ist etwas, das man aus einem Gedanken herauslösen kann, um ihn für einen anderen Gedanken weiterzuverwenden. Seit 2009 hat Markus Gabriel den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

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Das Universelle hat zwei Bedeutungen

François Jullien kennt den Unterschied zwischen dem Universellen, dem Gleichförmigen und dem Gemeinsamen. Das Universelle hat dabei für den französischen Philosophen zwei Bedeutungen. Da ist einerseits eine konstative, man könnte sagen schwache Bedeutung, die sich auf die Erfahrung beschränkt: „Soweit wir bisher beobachten konnten, stellen wir fest, das etwas immer so gewesen ist.“ In diesem Sinne bezieht sich der Begriff auf das Allgemeine. Das Universelle besitzt jedoch auch eine starke Bedeutung, nämlich die der universellen Gültigkeit im genauen oder strengen Sinn – sie ist es, woraus man in Europa eine Forderung des Denkens gemacht hat. François Jullien erläutert: „Wir behaupten von vornherein, noch vor aller Bestätigung durch die Erfahrung, dass eine bestimmte Sache so sein muss.“ François Jullien, geboren 1951 in Embrun, ist ein französischer Philosoph und Sinologe.

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François Jullien sucht das Universelle

Das Konzept des Universellen, das die Entwicklung der europäischen Kultur getragen hat, gerät heute von zwei Seiten unter Druck. François Jullien kennt sie: „Zunächst stößt es in der Begegnung mit anderen Kulturen auf einen Selbstwiderspruch. D zeigt sich, dass es seinerseits das Produkt einer einzigartigen Geschichte des Denkens ist. Darüber hinaus erweist ein Blick auf ihre gesamte Dauer, dass die einzigartige europäische Geschichte, aus der es hervorgegangen ist, gar nicht so notwenig war, wie implizit behauptet.“ Sobald man nämlich die philosophische Perspektive im engeren Sinn verlässt und die Herausbildung des Begriffs im Rahmen der – allgemeineren – kulturellen Entwicklung dessen betrachtet, was später zu Europa werden sollte, sieht man, dass der Aufstieg des Universellen sich einer bunten, um nicht zu sagen chaotischen Geschichte verdankt. François Jullien, geboren 1951 in Embrun, ist ein französischer Philosoph und Sinologe.

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Am Anfang war die Schönheit

Nichts ist für den Philosophen Konrad Paul Liessmann so verführerisch wie die Verführung: „Das Lockende und Verlockende, die Andeutungen und Versprechungen, die Eröffnung von bisher ungeahnten Möglichkeiten, das Verlassen eines sicheren Bodens, das Umgehen des Gewohnten, das Faszinosum des Neuen: Wer wollte dem widerstehen?“ Im Paradies muss es schön gewesen sein, so war es wohl. Am Anfang war die Schönheit, aber diese führte zu Wut, Trauer und Neid. Und der Schöpfer des Menschen ähnelte weniger einem Gott in seiner Machtvollkommenheit als einem Bastler. Dieser probiert einiges aus, um bei einem Produkt zu landen, das er nach kurzer Zeit wieder entsorgen muss. Die Erzählung vom Paradies ist von Anbeginn an eine Geschichte des Aufbegehrens und der Vertreibungen. Die Schöpfung in ihrer Schönheit provoziert den Widerstand desjenigen, dessen Licht diese Schönheit sichtbar macht, ohne selbst daran Anteil nehmen zu können.

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Die Urteilskraft minimiert die Gefahr der Täuschung

Der Besitz von Urteilskraft ist eine der wesentlichen Eigenschaften eines Philosophen. Diese Fähigkeit besteht darin, vor der Äußerung eines Urteils, der Zustimmung zu einer Aussage beziehungsweise ihrer Ablehnung oder der Entscheidung für eine Handlungsweise die dazu leitenden Vorstellungen beziehungsweise Beweggründe präzise zu analysieren und so alles auf sein wahren Prinzipien zurückzuführen. Da dieses Vorgehen eine klare Erkenntnis der Wahrheit, der Wahrscheinlichkeit, der Zweifelhaftigkeit oder der Falschheit der untersuchten Aussagen mit sich bringt, minimiert der Besitz von Urteilskraft die Gefahr diesbezüglicher Täuschung. Urteilskraft fungiert also als Instanz zur Bewertung des Verhältnisses von Aussagen zu den unabhängig von Aussagen bestehenden Sachverhalten und bewirkt die treffende, obgleich nicht schnelle Bewertung der Weise, in der Aussagen Aufschluss über die Wirklichkeit geben. Allgemein gefasst heißt das, dass die Urteilskraft Aussagen überhaupt erst in eine bewertbare Beziehung zur Wirklichkeit setzt.

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Markus Gabriel denkt über das Denken nach

Was ist Denken? Diese Frage ist so alt wie die Philosophie und hat nichts von ihrer Bedeutung verloren. Markus Gabriel vertritt in seinem neuen Buch „Der Sinn des Denkens“ die These, dass sie im digitalen Zeitalter, in dem Denken oft gleichgesetzt wird mit Künstlicher Intelligenz (KI), aktueller und dringender denn je ist. Er lädt seine Leser dazu ein, über das Denken nachzudenken und erklärt, warum sich menschliches Denken niemals durch intelligente Maschinen ersetzen lässt. Dagegen dominiert im Zeitalter der Digitalisierung die Vorstellung, dass Künstliche Intelligenz denken könne. Diese Annahme verkennt allerdings, dass das menschliche Denken unüberwindbar an biologische Bedingungen gebunden ist und nicht als ein Vorgang der Datenverarbeitung verstanden werden darf. Seit 2009 hat Markus Gabriel den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne und ist dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

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Gerald Hüther erkundet den Begriff der Würde in der Philosophie

Sogar die griechischen Philosophen, so gern und oft zitiert, machten sich um die Würde weit weniger Gedanken, als man annehmen konnte. Wenn sie ein Wort hatten, das dem der „Würde“ ähnelte, dann war es das griechische „to axioma“, was „Ansehen“ bedeutete, „Machtstellung“, „Ehre“ oder „Wertschätzung“. Gerald Hüther stellt fest: „Aber all das waren veränderliche Merkmale, abhängig von anderen und den Umständen ausgeliefert. Die Würde als eine dem Menschen eigene und innewohnende Eigenschaft, unabhängig von den Zeitläufen und nicht jederzeit neu verhandelbar: Das war keine Vorstellung, von der sich die antiken Denker leiten ließen.“ Intensiver beschäftigten sie sich mit der Seele des Menschen, der Psyche, und zum Beispiel der Frage, um wie viel wertvoller diese gegenüber dem Körper sei. Gerald Hüther zählt zu den bekanntesten Hirnforschern in Deutschland.

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Beim Ich könnte es sich um eine Illusion handeln

„Das Ich“ ist ein ominöser Begriff, der heute neben „dem Selbst“ vage als Name für die Schaltzentrale des Denkens, Fühlens und Wollens verwendet wird. Neurozentriker argumentieren üblicherweise dafür, dass es kein Ich oder Selbst gibt, da es sich im Gehirn nicht nachweisen lässt. Markus Gabriel erklärt: „Es ist völlig richtig, dass das Ich oder das Selbst kein Ding unter Dingen ist. Es existiert nicht in derselben Ordnung der Dinge neben Ratten, Katzen oder Matratzen. Wer dies meint, täuscht sich in der Tat.“ Es ist nämlich die Philosophie, den Ichbegriff entwickelt hat. Dass es sich beim Ich um eine Illusion handeln könnte, ist ein alter Verdacht, für den prominent Buddha, David Hume und Friedrich Nietzsche stehen. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne und ist dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

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Evi Hartmann setzt sich mit dem Begriff der Eliten auseinander

Es ist der traditionelle Elitebegriff, der im Alltag verwendet wird, um jene Menschen zu erfassen, die „das Land regieren und die Wirtschaft lenken“, wie es Leiter von Elitehochschulen gerne bei Absolventen-Abschlussfeiern mit entsprechendem Pathos betonen. Evi Hartmann erläutert: „Dabei geht es um Macht und um Gestaltungskraft. Grob ausgedrückt: Wer sich in einer Spitzenposition befindet, gehört gemeinhin zur Elite.“ Andere nennen das auch „das Establishment“. Beide Begriffe dienen dazu, jene zu identifizieren und zu verorten, die gemeinhin als „führend“ in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft betrachtet werden. So lautet das bislang übliche Begriffsverständnis von „Elite“. Umgangssprachlich übersetzt: Die da oben. Die Experten, Prominenten, Politiker, Millionäre, Milliardäre und Nobelpreisträger. Prof. Dr.-Ing. Evi Hartmann ist Inhaberin des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Supply Chain Management, an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg.

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Kulturen müssen von außen befruchtet werden

In der Tat wäre es absurd zu verlangen oder lediglich zu behaupten, dass Kulturen ihren Wandel stets aus sich selbst heraus vollbringen müssten. Thea Dorn schreibt: „Auch für Kulturen gilt: Inzest ist der sicherste Weg in die Degeneration. Befruchtung von außen muss sein.“ Aber sämtliche Wandlungen der deutschen Kultur, selbst diejenigen, die durch Fremdherrschaft wie der Römer oder Besatzung wie durch die Franzosen oder Amerikaner bewirkt wurden, konnten sich nur vollziehen, weil sie in Deutschland irgendwann auf fruchtbaren Boden gefallen sind. Selbst im Falle der „Reeducation“, die von vielen Deutschen nach 1945 zunächst als beleidigende Schmach empfunden wurde – und von heutigen Rechtsauslegern noch immer als solche empfunden wirde, gilt Gleiches. Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

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Kultur setzt sich in ihrem Zentrum aus Singularitäten zusammen

Die soziale Logik der Singularitäten ist eng mit jener Dimension des Sozialen verknüpft, für die man klassischerweise den Begriff der Kultur vorgesehen hat. Für Andreas Reckwitz lautet dabei der entscheidende Punkt: „Kultur setzt sich in ihrem Zentrum aus Singularitäten zusammen. Jene Einheiten des Sozialen, die als einzigartig anerkannt werden – die singulären Objekte und Subjekte, die singulären Orte, Ereignisse und Kollektive – bilden gemeinsam mit den zugehörigen Praktiken des Beobachtens und Bewertens, des Hervorbringens und Aneignens die Kultursphäre einer Gesellschaft.“ Die Logik des Besonderen gehört zur Kultur wie die Logik des Allgemeinen zur formalen Rationalität. Rationalisierung und Kulturalisierung sind die beiden konträren Formen von Vergesellschaftung. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

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Die Themen Heimat und Leitkultur darf man nicht den Rechten überlassen

Thea Dorn plädiert in ihrem neuen Buch „deutsch, nicht dumpf“ dafür, die Themen Heimat, Leitkultur und Nation nicht den Rechten zu überlassen. Und sie klärt ihre Leser darüber auf, ob sie ihr Land lieben und es sogar Heimat nennen dürfen. Die Autorin wendet sich den politischen Schicksalsfragen Deutschlands zu und will wissen, ob die Rede von Heimat und Verwurzelung oder gar Patriotismus ein rückwärtsgewandtes, engstirniges Denken befördert, das über kurz oder lang zu neuem Chauvinismus, Rassismus und Nationalismus führen wird. Oder ist es nicht eher so, dass das Beharren auf den eigenen kulturellen, historisch gewachsenen Besonderheiten in Zeiten von Migration, Globalisierung und Technokratisierung nicht Grundbedingung dafür ist, jene weltoffene Liberalität und Zivilität zu wahren, zu der das heutige Deutschland inzwischen längst gefunden hat. Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

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Ein innerer Kompass schirmt gegen Verlockungen und Heilsversprechen ab

Jeder Mensch entwickelt im Verlauf seines Lebens so etwas wie einen inneren Kompass, der ihm hilft, sich nicht in der Vielfalt der von außen an ihn herangetragenen oder auf ihn einstürmenden Anforderungen und Angebote zu verlieren. Gerald Hüther nennt Beispiele: „Dazu zählen nicht nur die vielen Verlockungen und Heilsversprechungen, die ihm von anderen gemacht werden, sondern auch all das, was jemand als Notwendigkeiten und unabwendbare Gegebenheiten betrachtet, denen er sich, wie er meint, fügen müsse und die er, wie alle anderen auch, zu akzeptieren habe.“ Aus neurobiologischer Sicht handelt es sich bei dem inneren Kompass um ein inneres Bild, also um ein in einer bestimmten Situation aktiv werdendes neuronales Verschaltungsmuster, das sehr eng an die Vorstellungen der eigenen Identität gekoppelt und damit zwangsläufig auch sehr stark mit emotionalen Netzwerken verknüpft ist. Gerald Hüther zählt zu den bekanntesten Hirnforschern in Deutschland.

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Die Suche nach Liebe ist ein quälend schwierige Erfahrung

Der französischen Soziologin Eva Illouz fiel mit etwa zwanzig Jahren auf, dass alle Frauen um sie herum, sie selbst eingeschlossen, über Liebesdinge vor allem in psychologischen Begriffen sprachen und dass diese Redeweise ebenso viel enthüllte wie verbarg. Eva Illouz berichtet: „Irgendwann habe ich dieser Sprache kein Wort mehr geglaubt.“ Stattdessen begann sie, die Liebe aus der Perspektive der Soziologie zu betrachten. Ulrich Schnabel erklärt: „Dabei bleibt sie nicht abstrakt, sondern geht ins Konkrete: Sie befragt Menschen, durchforstet die Anzeigen in digitalen Kontaktbörsen, analysiert Romane ebenso wie Frauenzeitschriften, Werbeblätter und Fernsehshows.“ Sie kommt dabei zu dem Schluss, dass die Suche nach Liebe für die allermeisten Männer und Frauen eine quälend schwierige Erfahrung ist. Ulrich Schnabel ist Wissenschaftsredakteur der Wochenzeitung „Zeit“ und Autor mehrerer erfolgreicher Sachbücher.

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Faulheit hindert einen Menschen an jeder Form von Tätigkeit

Wer Mut zur Faulheit machen will, verstrickt sich automatisch in einen Widerspruch. Wer die Faulheit ernst nimmt und sie praktizieren will, kann darüber nur wenig sagen, allenfalls müsst er sein Anliegen verraten und fleißig werden. Faulheit hindert einen Menschen an jeder Form von Tätigkeit. Faulheit ist das Gegenteil von Tätigkeit, der Faule ist der Untätige, und dennoch sie ist das „höchste Gut“, das seinem Besitzer ein „ungestörtes Leben“ verspricht. Konrad Paul Liessmann weiß aber auch: „Als höchstes Gut aber, als „summum bonum“ galt den Alten das Glück oder die Glückseligkeit. Dennoch kann man sich die Frage stellen, ob auch Faulheit glücklich machen könnte. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.

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Das Kulturelle ist gleichzeitig vielfältig und einzigartig

Wer die konzeptionelle Unterscheidung zwischen Abstand und Differenz einmal getroffen hat, versteht, weshalb es keine kulturelle Identität geben kann. Es führt in eine Sackgasse, wenn man im Hinblick auf die Verschiedenheit der Kulturen die Perspektive der Differenz einnimmt. Denn als Voraussetzung der kulturellen Unterschiede müsste man laut François Jullien logischerweise eine anfängliche Identität annehmen – eine gemeinsame, einheitliche, ursprüngliche Gattung – aus der heraus sich die Diversität der Kulturen entfaltet hat. François Jullien fügt hinzu: „Hat man sich erst einmal auf die Logik der Differenz eingelassen, muss man, das ist gewissermaßen die Vorbedingung, auch der Mythologie des ursprünglichen Einen und des Monismus Opfer bringen.“ Es ist schließlich leicht zu erkennen, dass das Kulturelle, auf welcher Ebene auch immer man es betrachtet, sich dadurch auszeichnet, dass es gleichzeitig vielfältig und einzigartig ist. François Jullien, geboren 1951 in Embrun, ist ein französischer Philosoph und Sinologe.

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François Jullien nähert sich den Kulturen mit dem Konzept des Abstands

Die Begriffe „Differenz“ und „Identität“ sind ein altes, von der Philosophie geerbtes Begriffspaar, das seit den alten Griechen auf der Erkenntnisebene erfolgreich funktioniert. François Jullien glaubt allerdings, dass eine Debatte, bei der es um die kulturelle „Identität“ geht, mit einem Geburtsfehler behaftet ist. Daher schlägt er eine konzeptuelle Verschiebung vor: „Anstatt die Verschiedenheit der Kulturen als Differenz zu beschreiben, sollten wir uns ihr mithilfe des Konzepts des „Abstands“ nähern; wir sollten sie nicht im Sinn von „Identität“, sondern im Sinn einer „Ressource“ und der „Fruchtbarkeit“ verstehen.“ Sowohl der Abstand als auch die Differenz markieren eine Trennung; die Differenz setzt dabei jedoch auf eine „Unterscheidung“ während der Abstand den Blick auf eine „Entfernung“ richtet. François Jullien, geboren 1951 in Embrun, ist ein französischer Philosoph und Sinologe.

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Der Begriff der Mündigkeit spielt heute keine Rolle mehr

Bildung hatte schon immer zwei Seiten: die Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen und die Ansprüche der Gesellschaft. Konrad Paul Liessmann fügt hinzu: „Bildung bedeutet die Steigerung individueller Entfaltungsmöglichkeiten und die Aneignung jener Kenntnisse, Techniken, Traditionen und Fähigkeiten, die eine Gesellschaft für wichtig und verbindlich erachtet.“ Geht dieser Zusammenhang verloren, befindet sich die Bildungssysteme in einer Krise. Die Individualisierung im Bildungsprozess meint folgendes: dass der Einzelne in Auseinandersetzung mit sich und der Welt, mit dem Wissen und der Kultur erfährt, was er und wie er in dieser Welt sein kann. Mündigkeit nannte man dieses Ziel eines bildenden Prozesses der Selbstgewinnung einmal, ein Begriff, der heute keine Rolle mehr spielt. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.

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Das Begehren gilt als die eigentliche Dynamik der Zivilisation

Der Begriff „Zivilisation“ bezeichnet eine Welt, die der Mensch mit seinen Händen geschaffen hat. Sie drängt die Natur so weit zurück, dass der Mensch in seiner Umgebung auf fast nichts mehr trifft, was nicht ihn selbst widerspiegelt. Terry Eagleton ergänzt: „Uns fällt es schwer, uns zu vergegenwärtigen, wie neu diese Art von Umwelt ist im Vergleich zu den weitgehend naturbestimmten Lebensweisen, die ihr vorausgingen.“ Terry Eagleton zweifelt nicht daran, dass das Bedürfnis nach einer Befreiung vom kollektiven Narzissmus einer der Gründe ist, warum der Natur in jüngerer Zeit ein so spektakuläres Comeback gelungen ist. Eine Welt, in der fast alles, mit dem man es zu tun hat, aus den Händen des Menschen stammt, scheint jeder Transzendenz entkleidet zu sein. Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.

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Die Begriffe Kultur und Zivilisation sind mehrdeutig

Es mag den Anschein haben, als sei Kultur eine Frage der Werte und Zivilisation eine Sache der Gegebenheiten, doch jeder der beiden Begriffe lässt sich normativ und deskriptiv verwenden. Terry Eagleton erklärt: „Das Wort >ganz< in dem Ausdruck >eine ganze Lebensweise< kann deskriptiv >vollständig< bedeuten, aber auch normativ >vereinigt<, >ganzheitlich<, >ohne Mangel<.“ Wenn der Anthropologe Edward Burnett Tylor im 19. Jahrhundert Kultur und Zivilisation definiert als „jenen Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und allen übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten, welche der Mensch als Glied der Gesellschaft sich angeeignet hat“, spricht er deskriptiv. Wenn der Dichter Henry James Pye im 18. Jahrhundert in seinem Gedicht „The Progress of Refinement“ schreibt: „Auf dem afrikanischen Schwarz zeigt sich keinerlei Kultur“, versteht er das als Wertung. Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.

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Als Lebensweise ist Kultur nur eine Frage der Gewohnheit

„Kultur“ ist ein außergewöhnlich komplexes Wort, das vier Hauptbedeutungen beinhaltet: Erstens den Bestand an künstlerischen und geistigen Werken. Zweitens den Prozess geistiger und intellektueller Entwicklung. Drittens die Werte, Sitten, Überzeugungen und symbolische Praktiken, nach denen die Menschen leben. Und viertens eine komplette Lebensweise. Die Kultur eines Volkes kann also Dichtung, Musik und Tanz bezeichnen, aber auch die Lebensmittel, die es isst, die Sportarten, die es betreibt, die Religion, die es praktiziert. Sie kann sogar die Gesellschaft als Ganzes meinen, samt Verkehrsnetz, Wahl- und Müllbeseitigungssystem. Das mag alles typisch für diese Kultur sein, wird aber nicht immer zu ihren Besonderheiten gehören. Terry Eagleton ergänzt: „Kultur in der künstlerischen und intellektuellen Bedeutung des Wortes kann durchaus Innovation miteinbeziehen, während Kultur als Lebensweise im Allgmeinen nur eine Frage der Gewohnheit ist.“ Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.

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Für François Jullien gibt keine kulturelle Identität

In einer globalisierten Welt fürchten sich viele Menschen vor dem Verlust ihrer kulturellen Identität. Doch gibt es überhaupt so etwas wie eine kulturelle Identität? In seinem neuen Buch „Es gibt keine kulturelle Identität“ zeigt François Jullien, dass der Glaube daran eine Illusion ist. Denn das Wesen einer Kultur ist die ständige Veränderung. Der Autor plädiert dafür, die Vielfalt der Bräuche, Traditionen und Sprachen als Ressourcen zu begreifen, die prinzipiell allen Menschen zur Verfügung stehen. Anders als die Werte, sind die Ressourcen einer Kultur nicht exklusiv – sie preisen sich nicht an und man predigt sie nicht. François Jullien ergänzt: „Man bringt sie vielmehr zur Geltung oder nicht, man aktiviert sie oder lässt sie verkommen; ob dies geschieht, liegt in der Verantwortung jedes Einzelnen.“ François Jullien, geboren 1951 in Embrun, ist ein französischer Philosoph und Sinologe.

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Kultur kann als eine Art soziales Unbewusstes verstanden werden

Seit so etwas wie Kultur existiert, hat sie das Zusammenleben der Menschen geprägt. In seinem neuen Buch „Kultur“ plädiert Terry Eagleton leidenschaftlich für die Rückbesinnung auf kulturelle Werte und liefert zugleich eine Anleitung, wie man seine persönlichen Beziehungen vertieft und dadurch zugleich die Zivilgesellschaft stärkt. Da der Begriff „Kultur“ sehr facettenreich ist, nähert sich Terry Eagleton seinem Gegenstand wohlweislich aus verschiedenen Perspektiven. Nachdem er sich mit der Bedeutung des Wortes „Kultur“ auseinandergesetzt hat, beschreibt er anschließend den entscheidenden Unterschied zwischen der Idee der Kultur und dem Begriff der Zivilisation. Danach befasst er sich mit der postmodernen Doktrin des Kulturalismus und unterzieht dabei die Begriffe Diversität, Pluralität, Hybridität und Inklusivität einer Kritik. Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.

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Die Weisheit wird von der Gesellschaft zu wenig geschätzt

Die Psychologie ist eine relativ junge Wissenschaft, die sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts als eigenständige Disziplin aus der Philosophie sowie der Medizin und Biologie entwickelt hat. Interessanterweise hat sich die Philosophie, die „die Liebe zur Weisheit“ sogar im Namen trägt, selten und in der Neuzeit noch weniger als vorher mit der Weisheit als menschlicher Eigenschaft befasst. Judith Glück erklärt: „Von Anfang an ging es ihr eher darum, weise Gedanken und Ideen zu beschreiben. Auch der Psychologie lag die Beschäftigung mit so komplexen Eigenschaften lange Zeit eher fern; sie befasste sich zunächst vor allem mit Prozessen, die bei allen Menschen gleichartig ablaufen und also bestimmten Regelhaftigkeiten folgen, wie etwa der menschlichen Wahrnehmung.“ Judith Glück ist seit 2007 Professorin für Entwicklungspsychologie an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.

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