Multikulti versus Monokulti spaltet Deutschland

Als der Göttinger Politikwissenschaftler Bassam Tibi 1998 den Begriff „Leitkultur“ ins öffentliche Gespräch brachte, ging das intellektuelle Ringen um das Selbstverständnis einer erwachsen gewordenen Nation nach dem Historikerstreit Mitte der 80er- Jahre in eine neue Runde. Christian Schüle erläutert: „Bassam Tibi hatte versucht, mit Demokratie, Laizismus, Aufklärung, Menschenrechten und Zivilgesellschaft eine kollektive Identität europäischer Nationen zu begründen.“ Zwei Jahre später nationalisierte Friedrich Merz, der damalige Vorsitzende der CDU-Bundestagsfraktion, den so eingeführten Begriff mit dem Satz, Migranten hätten sich einer „gewachsenen, freiheitlichen deutschen Leitkultur“ anzupassen – was gewiss als Gegenentwurf einer multikulturellen Gesellschaft zu verstehen war. Eine heftige Debatte folgte, Publizisten, Herausgeber, Juristen und Politiker ergriffen das Wort, und die Grünen konterten Merz` Forderungen mit dem Vorwurf, von nun an sei ein „Feuerwerk des Rassismus“ aus der Union zu befürchten. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

Weiterlesen

Die Beschwörung der Heimat geschieht durch Abspaltung

Die kämpferische Verschärfung der Beschwörung der Heimat geschieht durch Abspaltung. Christian Schüle weiß: „Ihre quasi heilige Berufung auf eine glorreiche Vergangenheit ist allen sezessionistischen und separatistischen Gruppierungen eigen.“ Fast immer sind ihre Argumente zugleich ökonomischer und ökologischer Natur: Wohlhabende Regionen grenzen sich gegen jene ab, die ihren Wohlstand von außen bedrohen und ihre Regionen einwandern, weil aus separatistischer Sicht Wohlstand und Region Synonyme sind. Einer politischen Abgrenzung entspricht als typische Geisteshaltung der Separatismus, vielfach zu studieren an Unabhängigkeitsgelüsten in Norditalien, im Baskenland, in Katalonien, in Schottland und in der Ost-Ukraine. Der Traum vom eigenen Ministaat, von der heilen Welt der unverdorbenen, autarken, autonomen Heimat, bringt die Selbstbestimmung der regionalen Bürger in Stellung gegen die Fremdbestimmung durch die eigene Nation oder etwa den „Suprastaat“ der Europäischen Union. Seit dem Sommersemester 2015 lehrt Christian Schüle Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

Weiterlesen

Der Mensch ist ein soziales Wesen

Der Homo sapiens entwickelte sich über Jahrmillionen nicht als Einzelgänger, sondern im engen Zusammenleben in einer sozialen Gemeinschaft. Primär bot die Gemeinschaft dem Individuum Schutz. Überleben bedeutete, zusammen zu leben. Anja Förster und Peter Kreuz ergänzen: „Aber außerdem bot sie ihm die Chance zu einer enormen geistigen Entwicklung: Das durch immer mehr implizite und explizite Regeln und Normen bestimmte, komplexe soziale Miteinander forderte eine Anpassung der intellektuellen Fähigkeiten, forderte Sprache, Mimik und Gestik sowie komplexe Verhaltensmuster.“ Die Fähigkeiten des menschlichen Gehirns nahmen immer weiter zu. Je differenzierter das Zusammenleben wurde, desto leistungsfähiger wurde auch das Gehirn. Insbesondere der frühkindlichen Bindung kommt eine extrem große Bedeutung zu. Erlebt ein Säugling nach der Geburt Urvertrauen und Sicherheit, stabilisieren ihn diese Gefühle sein Leben lang. Anja Förster und Peter Kreuz nehmen als Managementvordenker in Deutschland eine Schlüsselrolle ein.

Weiterlesen

Herbert Marcuse wagt eine Neubestimmung der Kultur

Zur Neubestimmung der Kultur nimmt Herbert Marcuse eine Definition von Webster zum Ausgangspunkt, wonach Kultur als der Komplex spezifischer Anschauungen des Glaubens, Errungenschaften, Traditionen und so weiter zu verstehen ist, die den Hintergrund einer Gesellschaft bilden. In den Mittelpunkt seiner Analyse stellt Herbert Marcuse das Verhältnis von Hintergrund und Grund einer Gesellschaft. Er schreibt: „Kultur erscheint so als der Komplex moralischer, intellektueller und ästhetischer Ziel, die eine Gesellschaft als den Zweck der Organisation, Teilung und Leitung ihrer Arbeit betrachtet – das Gut, das durch die von ihr eingerichtete Lebensweise erlangt werden soll.“ Herbert Marcuse betrachtet nur dann eine Kultur als existent, wenn die repräsentativen Ziele und Werte erkennbar in die gesellschaftliche Wirklichkeit übersetzt wurden. Das heißt, die Beziehungen zwischen den Mitgliedern der jeweiligen Gesellschaft müssen eine nachweisbare Affinität zu den verkündeten Werten aufweisen.

Weiterlesen

Peter Bieri stellt Formen der fürsorglichen Bevormundung vor

Menschen können von anderen Menschen bevormundet werden. Ob daraus eine Gefahr für die Würde hervorgeht, hängt laut Peter Bieri davon ab, welche Absicht dahintersteckt und ob der Eingriff in den Freiheit des anderen verständlich und gerechtfertigt erscheint. Es hängt auch davon ab, wie es um den Willen desjenigen steht, über dessen Kopf hinweg Entscheidungen getroffen werden. Es kann auch sein, dass es in der Sache, über die entschieden werden muss, noch gar keinen Willen gibt. Peter Bieri nennt als Beispiel Kinder, die in einer folgenreichen Angelegenheit noch keinen ausgeprägten, gefestigten Willen und keine Autorität haben. Peter Bieri, geboren 1944 in Bern, studierte Philosophie und Klassische Philologie und lehrte als Professor für Philosophie in Bielefeld, Marburg und an der Freien Universität Berlin.

Weiterlesen

Die Erkenntnis des Ichs bei René Descartes und Immanuel Kant

Der Weg zur Wahrheit führt für den Philosophen Herbert Schnädelbach in der Regel über den Ausschluss des Irrtums. Indem ausgeschlossen wird, was aller Wahrscheinlichkeit nicht wahr sein kann, wird die Anzahl der möglichen Wahrheitskandidaten eingegrenzt. Herbert Schnädelbach fragt zum Beispiel, ob es wahr ist, was mache Philosophen über „das Ich“ behaupten. Zunächst stellt er fest, dass dieser Begriff im alltäglichen Gespräch kaum vorkommt, und wenn, dann nur in Wendungen wie: „Er oder sie hat ein starkes Ich.“ Herbert Schnädelbach ergänzt: „Damit ist entweder ein stabiles Selbstbewusstsein oder ein ausgeprägter Egoismus gemeint. Im ersten Fall handelt es sich meist um herabgesunkenes Bildungsgut, beispielsweise aus der Psychoanalyse Sigmund Freuds, wo vom Es, Ich und Überich die Rede ist, oder aus der Tradition der Ich-Psychologie Alfred Adlers und Anna Freuds.“ Vor seiner Emeritierung war Herbert Schnädelbach Professor für Philosophie an den Universitäten Frankfurt am Main, Hamburg und an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Weiterlesen

Ralf Dahrendorf erklärt die Entstehung der Bürgerrechte

Die Bürgerrechte haben ihren Ursprung laut Ralf Dahrendorf in drei Quellen: Erstens in der Burg, zweitens in der aus den ländlichen Feudalstrukturen herausgenommenen mittelalterlichen Stadt und drittens im antiken Stadtstaat. Seiner Meinung nach führten sie am Ende mit innerer Notwendigkeit zur universellen, der Weltbürgergesellschaft. Ihre moderne Ausprägung haben die Bürgerrechte allerdings erst im Nationalstaat gewonnen. Ralf Dahrendorf schreibt: „Es ist kein Zufall, dass Länder, in denen moderne Bürgerrechte sich erst später durchgesetzt haben, meist auch verspätete Nationen waren, während die ersten Nationen zugleich Vorreiter der Bürgerrechte waren.“ Denn der moderne Nationalstaat besitzt im Kern die Form, in dem das nicht-feudale und anti-feudale Bürgertum seinen legitimen Platz finden konnte.

Weiterlesen

Hanno Beck untersucht die Irrationalität des Herdenverhaltens

Die institutionellen Investoren, die professionell das Geld ihrer Kunden an den Kapitalmärkten anlegen, wie zum Beispiel Versicherungen oder Pensionskassen, spielen laut Hanno Beck eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Herdentrieben an der Börse. Meistens investieren sie in das, was der Rest kauft, wodurch sie die Kurse nach oben treiben und somit den Auftrieb der Herde weiter verstärken. Auch Banken und Kapitalexperten können mit ihren Kommentaren zu einer Kursblase beitragen. Viele Investoren überschätzen ihre Fähigkeit, rechtzeitig aus einem überhitzten Markt auszusteigen. Hanno Beck behauptet, dass es ein verhängnisvolles Gebräu von Selbstüberschätzung, Gier, Wunschdenken und simplen Marktmechaniken ist, die einen Markt geradewegs in eine Katastrophe führt. Hanno Beck, der früher in der Wirtschaftsredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung arbeitete, lehrt heute als Professor für Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftspolitik an der Hochschule Pforzheim.

Weiterlesen

Peter Bofinger will auf keinen Fall zur D-Mark zurück

In seiner Streitschrift „Zurück zur D-Mark?“ vertritt der international renommierte Ökonom und Wirtschaftsweise Peter Bofinger die These, dass eine Rückkehr zur D-Mark für Deutschland in einem verheerenden Desaster enden würde. Er fordert eine grundlegende Reform der Währungsunion und positioniert sich gegen den monetären Nationalismus. Peter Bofinger ist fest davon überzeugt, dass nur der Euro den Wohlstand in Deutschland sichern kann und die Länder Europas nur gemeinsam in der Lage sind, sich gegen die Mächte der Märkte zu behaupten. Zudem tritt Peter Bofinger in seinem Plädoyer für den Euro dafür ein, dass die Arbeitnehmer wieder am wachsenden wirtschaftlichen Wohlstand beteiligt werden müssen. Auch ein schuldenfreies Wachstum ist für ihn nicht im Reich der Utopie angesiedelt. Der Euro ist laut Peter Bofinger nicht das Problem der aktuellen Finanzkrise in Europa, sondern die Lösung.  

Weiterlesen

Max Frisch hält die Höflichkeit für eine Gabe der Weisen

Wenn ein Mensch zuweilen die Geduld verliert, seine Meinung unverfroren äußert und dabei bemerkt, dass der andere zusammensackt, beruft er sich mit Vorliebe darauf, dass er halt ehrlich ist. Und in der Folgezeit muss der Angesprochene überlegen, wie er mit den Ohrfeigen umgeht, die ihm die Tugend versetzt hat. Der Mensch, der hier die Wahrheit unverblümt ausgesprochen hat, hat das Problem, dass er dem anderen mit seiner Ansicht nicht helfen will. Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch erklärt: „Der Wahrhaftige, der nicht höflich sein kann oder will, darf sich jedenfalls nicht wundern, wenn die menschliche Gesellschaft ihn ausschließt.“ Seiner Meinung nach darf sich so eine Person nicht brüsten und eine Gloriole tragen, die ihr nicht zukommt, denn sie übt eine Wahrhaftigkeit, die stets auf Kosten der anderen geht.

Weiterlesen

Hans Blumenberg denkt über drei Wassermetaphern nach

Um mit den Ungewissheiten der Realität leben zu können, erschaffen sich die Menschen Bilder und Mythen, die ihnen Orientierung bieten, auch wenn sich ihr Wahrheitsgehalt kaum beweisen lässt. Der Philosoph Hans Blumenberg beschäftigte sich sein ganzes Leben lang mit bestimmten Metaphern, die als wegweisende Ideen dem Denken einen Halt geben, ohne es völlig einzuschränken. Metaphern bilden laut Hans Blumenberg den Unterbau der Ideengeschichte. Seit 1978 wollte er ein Buch über die drei Wassermetaphern Quellen, Ströme und Eisberge veröffentlichen. Der nahezu druckfertig ausgearbeitete Text, der sich in seinem Nachlass fand, ist jetzt zum ersten Mal im Suhrkamp Verlag unter dem Titel „Quellen, Ströme, Eisberge“ herausgegeben worden. Beim Lesen des Buches wird man feststellen, dass Wasser, auch als Metapher buchstäblich lebensnotwendig ist.

Weiterlesen

In Europa konkurrieren viele verschiedene Identitäten miteinander

Andreas Wirsching zweifelt daran, dass sich die Frage nach einer europäischen Identität überhaupt sinnvoll beantworten lässt. Für ihn ist allzu offenkundig, dass es in Europa zumindest viele und miteinander konkurrierende Identitäten gibt und dass sich diese Identitäten seit dem Ende des Kommunismus nachhaltig gewandelt haben. Andreas Wirsching ergänzt: „Überdies scheint auch die kulturelle Identifikation der Bürger in Europa mit ihrem Kontinent noch nicht soweit vorangeschritten zu sein, dass sich ohne weiteres ein Gemeinschaftsgefühl, europäischer Zugehörigkeit, geschweige denn von Öffentlichkeit sprechen ließe.“ Andreas Wirsching ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Zu seinen bekanntesten Büchern zählen „Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert“ und „Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit.“

Weiterlesen

Die sieben Kriterien für ein gutes Konjunkturprogramm

Ein gut konzipiertes Konjunkturprogramm sollte laut Joseph Stiglitz sieben Kriterien erfüllen. Erstens sollte es schnell wirksam werden. Seiner Meinung darf man in Krisenzeiten nicht warten, sonder muss sehr schnell Kapital in die Wirtschaft pumpen, damit es nicht Monate dauert, bevor die wirtschaftspolitischen Maßnahmen greifen. Zweitens sollte es wirksam sein. Wirksamkeit bedeutet für Joseph Stiglitz, dass jeder ausgegebene Dollar oder Euro die Beschäftigung und die Produktion einer Volkswirtschaft stark erhöhen sollte. Der Betrag, um den sich das Nationaleinkommen für jeden ausgegebenen Dollar erhöht, heißt Multiplikator. Joseph Stiglitz erläutert: „Im Durchschnitt beträgt der kurzfristige Multiplikator für die US-Wirtschaft etwa 1,5. Wenn die Regierung heute eine Milliarde Dollar ausgibt, wird sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in diesem Jahr um 1,5 Milliarden Dollar erhöhen.“

Weiterlesen

Seneca verteidigt die Dreiteilung der Philosophie

Die Epikureer begnügten sich gemäß Seneca mit zwei Unterteilungen der Philosophie: Naturlehre und Sittenlehre. Von der Dialektik wollten sie nichts wissen. Doch als die Auseinandersetzung mit der Realität sie zwang, Zweideutigkeiten auszuschließen und die verborgenen Ursachen von Fehlern, die der Wahrheit so sehr ähneln, aufzudecken, nahmen auch sie die Dialektik in ihre Philosophie auf, wenn auch unter anderem Namen. Seneca schreibt: „Sie wählten dafür die Bezeichnung „Von Urteil und Regel“, betrachteten aber diesen Teil nur als Anhang zur Naturlehre.“ Die Cyrenaiker schieden Naturlehre selbst Dialektik aus und begnügten sich mit der Sittenlehre. Doch auch sie führten das Verworfene auf andere Weise wieder ein, denn bei ihrer fünffachen Untereilung der Sittenlehre beschäftigt sich der erste Teil mit dem, was der Mensch meiden und was er anstreben soll, der zweite mit den Affekten, der dritte mit den Handlungen, der vierte mit den Ursachen und der fünfte mit den Beweisarten.

Weiterlesen