Durch den Schmerz kann eine Schuld beglichen werden

Das innerste Prinzip der Rache ist die Zurückzahlung: Wie du mir, so ich dir. Und auch dem tiefen Wunsch nach Reue, den der oder die Verzeihende hegen mag, wohnt eine derartige Logik der Vergeltung inne. Svenja Flaßpöhler erklärt: „Wenn ich schon auf Rache verzichte, dir deine Schulden erlasse, zeig dich wenigstens erkenntlich. Beweise deine Demut! Deine Dankbarkeit! Dein schlechtes Gewissen! Gib mir irgendetwas zurück!“ Diese Erwartungshaltung, dass eine Gabe mit einer Gegengabe entgolten werden muss, ist keineswegs erst ein Resultat kapitalistischer Tauschwertlogik, sondern bereits in archaischen Gesellschaften zu finden und also tief im Menschen verwurzelt. Diese Verwurzelung zeigt sich heutzutage an jedem Geburtstag. In dem Geschenk, das man von einem Freund empfängt, ist auch der Freud auf eigentümliche Weise anwesend. Dr. Svenja Flaßpöhler ist Stellvertretende Chefredakteurin des Philosophie Magazins.

Ohne Gegengeschenk kann man die Gabe des anderen nicht uneingeschränkt genießen

Der Freund ist mit seiner Gabe untrennbar vereint. Und solange man sich nicht für sein Geschenk bedankt oder sich mit einem Gegengeschenk revanchiert hat, kann man das Geschenk des anderen nicht uneingeschränkt genießen. Man hat ein schlechtes Gewissen, fühlt sich schuldig, ja fast scheint es, als übte das Ding einen bösen Zauber aus. Um diesen Zauber loszuwerden, tritt manch ein Empfänger mit dem Geber in einen regelrechten Rivalitätskampf ein: Wer macht das schönere Geschenk? Wer gibt mehr Geld aus?

Manchmal überbieten sich Opfer und Täter bei Akten der Versöhnung gegenseitig in ihren Liebesbekundungen, ihrer Bereitschaft des Vergebens und der Reue. Svenja Flaßpöhler erläutert: „Der Großzügigkeit des Opfers steht die überbordende Demut des Täters gegenüber, Tränen fließen, die Stimme ist brüchig, man liegt sich in den Armen.“ Kaum zu übersehen, dass derartige Szenen leicht etwas Inszeniertes, Kitschiges an sich haben. An anderer Stelle zeigt sich, wie leicht das Archaische ins Vulgäre gewendet werden kann.

Moral und Ökonomie gehörten einst ganz eng zusammen

Ist es nicht in der Tat frivol, sich an der Selbstbezichtigung des Sünders zu erfreuen? Entsprechend meint Jacques Derrida: „Das, was ich vergebe dir manchmal unerträglich oder verhasst, ja sogar obszön macht, ist die Wiederbejahung der Souveränität. Sie wendet sich oft von oben nach unten, sie bekräftigt ihre eigene Freiheit oder maßt sich die Macht an zu vergeben, sei es als Opfer oder im Namen des Opfers.“ Nur was nicht aufhört weh zu tun, bleibt im Gedächtnis – das ist ein Hauptsatz der allerältesten Psychologie auf Erden.

Allen religiösen Kulten sind die grausamsten Ritualformen, das Martern und Opfern, gemeinsam gewesen. Der Schmerz war das mächtigste Hilfsmittel der Erinnerungstechnik. Diese Technik, so Friedrich Nietzsche, sei der Ursprung des Gewissens. Der Schmerz ist die Währung, in der eine Schuld beglichen wird. An dieser Begrifflichkeit zeigt sich, wie eng Moral und Ökonomie, Schuld und Schulden einstmals zusammengehörten. Für Friedrich Nietzsche hat die Moral ihren Ursprung in der Ökonomie. Quelle: „Verzeihen“ von Svenja Flaßpöhler

Von Hans Klumbies