Die ruhigen Momente im Leben weisen den Weg zum Selbst

Die deutsche Philosophin, Literaturwissenschaftlerin und Autorin Svenja Flaßpöhler vertritt die These, dass der technische Forschritt, eine Steigerungslogik und ständig wachsende Leistungsanforderungen den Tagesablauf der meisten Menschen takten. Svenja Flaßpöhler stellt sich die Frage, ob es wirklich nur soziale Mechanismen sind, die Effizienz und Beschleunigung fordern, oder ob die Gründe dafür vielleicht doch beim Menschen selbst verortet sind. Sie schreibt: „Obwohl allenthalben mehr Muße eingeklagt wird, scheinen wir tatsächlich kaum fähig, Zeit überhaupt auszuhalten.“ Jedes sich öffnende Zeitfenster weckt bei vielen Menschen die Neigung, es sogleich zu takten und zu füllen. Dabei könnten es gerade die ruhigen Momente im Leben sein, die den Weg zum Selbst weisen, vor allem wegen ihrer Eigenart, sich in ihnen dem Nichts ausgeliefert zu fühlen. Sinn bekommt das Sein für Svenja Flaßpöhler erst durch die Konfrontation mit dem Nichtsein.

Der hyperaktive Mensch sieht und fühlt seine Grenzen nicht mehr

Svenja Flaßpöhler ist davon überzeugt, dass ein gelassener Mensch seine Grenzen kennt. Sein und Nichtsein, Aktivität und Passivität akzeptiert der Gelassene als die zwei Seiten seines Selbst. Wer das Nichts in das Sein aufnimmt, schützt sich gleichzeitig vor Burn-out. Svenja Flaßpöhler zitiert die Philosophinnen Alice Lagaay und Barbara Gronau, die folgendes geschrieben haben: „Im Nichtstun werden Zwischenzonen kreiert, die sich als Pause oder als Intervall, als Durchquerung oder als Leerstelle, als Potential oder Spielraum beschreiben lassen.“

Je massiver die Todesangst eines Menschen ist, desto aktiver und angestrengter handelt und agiert er. Der Philosoph Byung-Chul Han erklärt: „Gerade auf das nackte, radikal vergänglich gewordene Leben reagiert man mit der Hyperaktivität, mit der Hysterie der Arbeit und der Produktion.“ Für den Hyperaktiven zählen nur das Sein, das Positive und das Können. Alles Negative filtert er sorgsam aus seinem Selbstbild heraus, was dazu führt, dass er weder seine eignen Grenzen sieht noch fühlt. Laut Svenja Flaßpöhler führt diese Grenzenlosigkeit einerseits zum bekannten Mechanismus der Selbstausbeutung, andererseits geht sie auch unverkennbar mit einer lustbesetzten Allmachtsfantasie einher.

Wie nichtig ist die Lebenszeit im Vergleich zur Zeit des Kosmos

In vollem Ausmaß spürbar wird die mit der Endlichkeit des eigenen Daseins verbundene Demütigung, sobald der Mensch seinen Blick zum Sternenhimmel erhebt. Svenja Flaßpöhler schreibt: „Wie nichtig, wie flüchtig ist die Lebenszeit im Vergleich zur Zeit des Kosmos!“ Jede neue wissenschaftliche Erkenntnis erwirkt scheinbar ein Anwachsen der menschlichen Möglichkeiten, sei es in der Beherrschung der Natur, der Beschleunigung, der Selbststeigerung oder des Genusses. Sie weist aber gleichzeitig auf die unbedeutende Rolle hin, die der einzelne Mensch in den Jahrmillionen der Geschichte spielt.

Der Mensch ist laut Svenja Flaßpöhler nicht dann frei, wenn er dem inneren Zwang zur Beschleunigung nachgibt, sondern es verhält sich gerade umgekehrt. Frei ist der Mensch, wenn er diesen Zwang nicht mehr verspürt. So ein Mensch zieht seine Lust gerade nicht aus dem Ergreifen von Möglichkeiten, sondern dem Seinlassen. Und doch bleibt der Mensch immer ein Wesen mit einem Begriff von Zeit im Gegensatz zum Tier. Deshalb stellt Svenja die Schlussfrage, ob ein solches Individuum wirklich ohne den Wunsch leben kann, sich selbst zu überholen.

Von Hans Klumbies