Stendhals Romane erzeugen ein Gefühl des Glücks

Der französische Philosoph Alain erkannte, dass der Schriftsteller Stendhal ganz und gar kein Bürger im üblichen Sinne war. Er schrieb: „Die Tyrannen, ob groß oder klein, fürchten dieses skandalöse Beispiel eines Mannes großen Stils, der vor nichts Respekt hat.“ Laut Alain nahm Stendhal die Götter der Politik nicht ernst, ob sie nun Staat oder Vaterland hießen. Er machte sich über die Macht lustig und verlachte die Wichtigtuer. Seine Götter waren der Mut, die Ehre, die Liebe und die Freundschaft. In den zwei großen Romanen von Stendhal sieht Alain zwei Muster der Schönheit, und zwar ohne jede Einschränkung. Alain sagt: „Die ersten Seiten der Kartause von Parma reißen mich mit wie der schönste Gesang Homers. Schlichtheit, Jugend, Poesie, all dies kommt darin dem großen Augenblick gleich.“

Alain vergleicht den Schreibstil Stendhals mit dem Gesang von Homer

Alain vergleicht Stendhals Stil mit dem von Voltaire und kommt zu dem Schluss, dass die Prosa Voltaires ihr Thema noch nicht gefunden hatte. Sie verstehe weder zu lügen, noch zu zwingen, noch zu predigen. Voltaire gehe den Menschen und die Sache in einer ungeschminkten Prosa ohne Umstände an.

Nur in seinen Erzählungen sei sein Stil frei und beflügelt. Alain schränkt allerdings ein, dass man genau genommen gar nicht beweisen kann, ob ein Schriftsteller über seinen eigenen Stil verfügt. Alain behauptet: „Da entscheidet der Geschmack oder die Leidenschaft oder die Langeweile.“ Alain glaubt auch zu wissen, warum Victor Hugo die Prosa Stendhals nicht ertrug.

Stendhals Romane regen zum Denken an

Alain erklärt: „Hugos Stil ist ganz Bewegung, Rhythmus, Rhetorik. Bei Stendhal dagegen wie bei Voltaire und schon bei Molière wird der Satz absichtlich gebrochen; in dem Augenblick, da sich die Idee einstellt, wo der Sieg gewonnen ist, hört man nicht das Grollen des Triumphes, nicht den Schritt der Massen, sondern der Duktus fasst sich kürzer, wobei er viel Sinn und wenig Materie mit sich führt.“

Alain erkennt darin eine Schamhaftigkeit und Besorgtheit, die Zustimmung des Lesers nicht zu erzwingen. Ein solcher Stil verlange, dass man stehen bleibt und sich selbst Gedanken macht. Laut Alain können das Dichter und Redner kaum verstehen. Noch weniger der Politiker, der auf die Pauke haut.

Stendhal bannt die heißesten Leidenschaften in eine nüchterne Form

Alain konkretisiert: „All diese Menschen sind Schrittmacher; sie versetzen uns in Sturmschritt, und zwar mit dem Verbot zurückzuschauen; der Lärm der Schritte übertönt die Gedanken.“ Stendhal dagegen hatte es nicht nötig, Lärm zu machen. Alain ist sich sicher, dass in der Schreibkunst Stendhals nichts Verborgenes zu entdecken wäre, wenn sie nicht die Trockenheit, die Ironie und die Verneinung enthalten würde.

Ihn entzückt, dass die heftigsten und heißesten Leidenschaften in diese nüchterne Form gebannt sind und das Epos des Ehrgeizes, der Liebe und der Verzweiflung in zwei Zeilen gefasst ist. Alain fährt fort: „Diese Glück nutzt sich nicht ab.“

Von Hans Klumbies