Siegfried Kracauer untersucht den schillernden Begriff der Liebe

Das Wort Liebe bezeichnet für Siegfried Kracauer sehr verschiedene seelische Wirklichkeiten. Der Sprachgebrauch gestattet die breiteste Anwendung des Begriffs. Bei der Untersuchung der Liebe geht es Siegfried Kracauer nicht um die Vereinigung der Liebenden, die sich nur mit dem Rausch der Sinne begnügt, ein Zusammensein und Verschmelzen zweier Leiber, aber nicht der Menschen ihrem vollen Umfang nach. Auch die eheliche Gemeinschaft kommt für ihn nicht in Betracht, da in ihr sich niemals die Liebe rein, sondern nur in unlöslichem Gemisch mit zahlreichen anderen Gefühlen und Strömungen auswirkt. Der deutsche Journalist, Soziologe, Filmkritiker und Geschichtsphilosoph Siegfried Kracauer, der von 1889 bis 1966 lebte, gilt als Autor der ersten empirisch-soziologischen Studie in Deutschland, die den Titel „Die Angestellten“ trug und gehört zu den Begründern der Filmsoziologie.

Die reine Liebe durchströmt Körper und Seele gleichermaßen

Siegfried Kracauer lässt als reine Liebe nur die durchgeistigte Sinnenliebe, die Körper und Seele gleichermaßen durchströmt, gelten. Dabei handelt es sich um einen Liebeszustand, indem von dem geliebten Menschen nichts gefordert wird. Man begnügt sich damit ihn zu verherrlichen und stellt ihn so hoch, dass das sinnliche Verlangen nicht an ihn heranwagt. Siegfried Kracauer schreibt: „Diese wunschlose, heiligende Liebe tritt häufig bei jungen Menschen und beginnender Zuneigung ein, sie ist von Keuschheit, von Windstille der Sinne begleitet.“

Selten ist diese keusche Liebe von Dauer. Die Zeit, der Alltag, der Geschlechtstrieb kommen hinzu. Sie macht dann der begehrenden Liebe Platz. Die Menschen wünschen sich laut Siegfried Kracauer eine Vereinigung herbei, die ihr ganzes Leben, wie es nun einmal ist, zusammenschmilzt. Diese Liebe ergreift den Menschen seiner Meinung nach an der Wurzel seines Wesens, an einer Stelle, die jenseits des Unterschiedes von Leib und Seele liegt. Sie quillt aus den Tiefen einer unbewussten Natur herauf, als die alles überflutende Begierde nach einem anderen Menschen.

Wahrhaft Liebende möchten zu einem einzigen Gebilde zusammenwachsen

Siegfried Kracauer schreibt: „Es bildet das Glück der Liebenden, dass ihnen nicht eine ihrer geheimsten Regungen verborgen bleibt und ihr Denken und Fühlen sich faltenlos vor ihrem inneren Blick ausbreitet.“ Die Scham setzt dabei der Sichentäußerung kaum eine Grenze. Diese Seeligkeit der Hingabe und Aufnahme inneren Lebens entspricht der Geschlechtslust, die sie im Geistigen widerspiegelt. Die wirkliche Liebe will allerdings mehr: sie will, da die Partner alles voneinander wissen, ein gemeinsames Fortleben, aus dem Wirkungen aller Art entsprießen.

Diese Wirkungen haben ihren Ursprung nicht mehr in dieser oder jener Einzelseele, sondern in einem neuen Reich, das sich aus den früher für sich bestehenden Seelen bebildet hat. Siegfried Kracauer schreibt: „Dies macht ja jedes Zusammensein für Liebende so köstlich und zu einem unvergesslichen Erlebnis, dass es einen Baustein zu einem neuen Gebäude darstellt, das beide Menschen gleichmäßig beherbergen soll.“ Nicht sich verlieren und erlöschen möchte auf die Dauer der eine Partner im anderen, nein, sondern zusammenwachsen mit ihm zu einem einzigen Gebilde.

Von Hans Klumbies