Der Weisheit sind alle anderen Künste untergeordnet

Die Natur erfüllt ihre Forderungen laut Seneca von selbst. Tägliche Zügellosigkeit, die über einen längeren Zeitraum hin ständig anwächst und mit viel Phantasie das Laster fördert, bedeutet die Abkehr von der Natur. Wenn ein Mensch seine Wünsche auf Überflüssiges oder sogar auf Naturwidriges ausrichtet, liefert er seinen Geist dem Körper aus und macht ihn zum Sklaven seiner Begehrlichkeiten. Wer das natürliche Maßgefühl verliert, das sich bei der Befriedigung von Wünschen mit dem Unentbehrlichen und Lebensnotwendige begnügt, gilt als zurückgeblieben und ärmlich. Selbst bedeutende Männer lassen sich gemäß Seneca durch den Wohllaut der Rede von der Wahrheit ablenken.

Das Streben der Weisheit gilt dem wahren Lebensglück

Für Seneca ist die Weisheit die Lehrmeisterin des Geistes, nicht die der Hände. Ihre Entdeckungen und Leistungen sind eben nicht die anmutigen Tanzbewegungen, nicht die vielerlei Töne von Trompete und Flöte. Seneca schreibt: „Sie gibt sich weder mit Waffen noch mit Mauern, noch mit anderem Kriegsbedarf ab; sie unterstützt den Frieden und mahnt die Menschheit zur Eintracht.“ Sie stellt keine notwendigen Gebrauchsgegenstände her. Seneca sieht in der Weisheit die Künstlerin des Lebens, der alle anderen Künste untergeordnet sind.

Wenn ein Mensch das Leben beherrscht, kann er alles gebrauchen, was dem Schmuck seines Lebens dient. Das Streben der Weisheit gilt dabei nur jenem wahren Lebensglück, zu dem sie den Menschen hinführen, zu dem sie ihm die Wege öffnen will. Seneca sagt: „Echte und scheinbare Übel zeigt sie auf, erlöst die Geister von nichtiger Eitelkeit, verhilft ihnen zu wahrer Größe; die angemaßte aber und in ihrer hohlen Pracht sich darbietenden Größe drängt sie in den Hintergrund, lässt nicht zu, dass der Unterschied zwischen Größe und Hochmut verkannt wird.“

Im Leben und in der Lehre ist Wahres mit Falschem vermischt

Die Weisheit vermittelt laut Seneca die Kenntnis der Gesamtheit der Natur und den Einblick in ihr eigenes Wesen. Sie erklärt den Menschen, was Götter und wie sie beschaffen sind. Die Werke der Weisheit schließen nicht einen einzelnen städtischen Tempel auf, sondern das unermessliche Heiligtum aller Gottheiten. Manchmal wendet sich die Weisheit auch zurück zum Urgrund der Dinge, zur ewig währenden Vernunft, die dem Weltganzen innewohnt.

Seneca schreibt: „Dann beginnt sie mit der Untersuchung über das Wesen des Geistes, seiner Herkunft, seines Aufenthaltsorts , seiner Lebensdauer, seiner Gliederung; wendet sich darauf vom Bereich des Körperlichen ab und dem des Unkörperlichen zu, prüft die Möglichkeiten der Wahrheitsfindung und die Beweisarten und befasst sich zuletzt mit der Entschlüsselung von Zweideutigkeiten in Leben und Lehre; in beiden Bereichen begegnet uns nämlich Falsches mit Wahrem vermischt.“

Von Hans Klumbies