Seneca siedelt den Geist weit über dem Körper an

Um sich Seelenruhe zu verschaffen, erforscht Seneca zuerst sich selbst und erst später seine Umwelt. Der Körper ist für ihn eine Last und eine Strafe für den Geist, der von ihm eingezwängt und in Fesseln gehalten wird. Dieser Zustand ändert sich aber, wenn die Philosophie auftaucht und dem Geist befiehlt, beim Betrachten des Naturgeschehens aufzuatmen und ihn von der Erdenwelt ins Göttliche entrückt. Seneca schreibt: „Darin erweist sich ja des Geistes Freiheit, sein Umherschweifen: er entzieht sich zuweilen der ihm auferlegten Bewachung und stärkt sich im Himmelslicht.“ Der Geist der sich in der trübseligen und dunklen Behausung des Körpers nicht wohl fühlt, strebt deshalb sooft er nur kann, ins Freie und erquickt sich an der Betrachtung der Natur.

Der Weise verspürt gegenüber dem Leben weder Liebe noch Hass

Zwar bleibt der Weise und der nach Weisheit Strebende an den Körper gebunden, aber sein besseres Ich weilt laut Seneca anderswo, da seine Gedanken erhabenen Gegenständen gelten. Diese Menschen sind so geartet, dass sie dem Leben gegenüber weder Liebe noch Hass verspüren, sondern ihr Erdenschicksal hinnehmen, so wie es ist, im Bewusstsein, dass das Bessere noch nachkommt. Die Weisen sind erhaben und zu größerem geboren, als sich zum Sklaven ihrer Körper degradieren zu lassen, der für sie nicht mehr bedeutet als eine Fesselung ihrer Freiheit.

Seneca ist davon überzeugt, dass ein hinfälliger Körper von einem freien Geist bewohnt ist. Der Geist steht weit über dem Körper und fordert alles Recht für sich. Wenn der Geist den eigenen Körper verachtet, hat er die wahre Freiheit erreicht. Seneca schreibt: „Dem jeweils Besseren soll das Minderwertige zu Diensten sein. Lasst uns also allem Unvorhergesehenen mutig entgegentreten und vor Unrecht, Verwundung, Gefangenschaft und Armut nicht erzittern. Was ist schon der Tod?“

Die Menschen sollten über ihr Leben als Ganzes nachdenken

Wer wissen möchte, was jeweils zu tun oder zu lassen ist, sollte laut Seneca das höchste Gut, seinen Lebensplan ins Auge fassen, denn mit ihm müssen die Handlungen übereinstimmen. Seneca erklärt: „Wer nicht schon einen solchen Gesamtplan seines Lebens vor sich hat, wird Einzelheiten nicht in Ordnung bringen können.“ Darum scheitern viele Menschen, weil sie zu sehr mit den Einzelheiten ihres Lebens beschäftigt sind und sie nicht über ihr Leben als Ganzes nachdenken.

Für Seneca steht fest: wer kein festes Ziel im Leben hat, muss in die Irre gehen. Er gibt allerdings zu, dass die Macht des Zufalls im Leben nicht unterschätzt werden darf. Die Menschen sind seine Kinder. Den meisten Menschen ist gar nicht bewusst, wie weit ihr Wissen reichen könnte. Seneca erklärt: „So wie wir oft jemanden suchen, der unmittelbar neben uns steht, so verkennen wir gewöhnlich auch den vor uns liegenden Sinn und Zweck des höchsten Gutes.“

Von Hans Klumbies