Seneca erkennt in der Vernunft die wahre Ursache

Seneca unterscheidet bei den Stoikern zwei Grundursachen alles Naturgeschehens, die Ursache und die Materie. Dabei ist die allseitig verwendbare Materie der passive Teil, die ohne Anstoß zur Trägheit neigt. Die Ursache dagegen, das heißt die Vernunft, formt die Materie, weist ihr den Weg in die gewünschte Richtung und bildet aus ihr die unterschiedlichsten Gestalten. Seneca schreibt: „Es muss also für alles Werden ein Woher und danach ein Wodurch geben. Letzteres ist die Materie, ersteres die Ursache. Jede Kunst ist Nachahmung der Natur.“ Was im Ganzen von der Welt gilt, ist im Kleinen auch für alles von Menschenhand Geschaffene gültig.

Für die Stoiker gibt es nur eine einzige Ursache

Wenn ein Künstler zum Beispiel ein Standbild formt, dann entspricht laut Seneca die Bronze der Materie, der Künstler ist die Ursache. Alle Gegenstände bestehen für ihn aus Bewirktem und Bewirkendem. Für die Stoiker gibt es nur die eine Ursache: die, die etwas bewirken kann. Seneca zitiert Aristoteles, der in dreifacher Weise von einer Ursache spricht: „Erste Ursache ist für ihn die Materie selbst, ohne sie könnte überhaupt nichts bewirkt werden. Zweite Ursache ist der Schöpfer, dritte Ursache die Form, die jedes Werk prägt.“ Aristoteles nennt die Form auch äußere Gestalt. Als vierte Ursache ließe sich noch der Zweck des ganzen Werkes in Betracht ziehen.

Für Platon gibt es sogar noch eine fünfte Ursache, das Urbild. Er selbst nannte es Idee. Seneca erklärt: „Nach Platon gibt es also fünf Ursachen: das Woraus, das Wodurch, da Worin, das Wonach und das Wozu. Diese Ursachen zusammen führen zum Endergebnis.“ Seneca fragt sich, ob dieses von Aristoteles und Platon entworfene Netz der Ursachen nun zu weit oder zu engmaschig ist. Für ihn ist es zu wenig, wenn sie als Ursache des Schaffens nur dasjenige angeben, ohne das etwas nicht hätte zustande kommen können. Sie müssten zuerst noch die Zeit noch dazunehmen, da nichts außerhalb der Zeit geschieht.

Jede Entwicklung und jede Kunst setzt eine Bewegung voraus

Außerdem müssten laut Seneca die griechischen Denker auch den Raum dazurechnen, da nichts außerhalb räumlicher Begrenzungen geschehen kann. Als nächste Ursache käme die Bewegung dazu, denn nichts entsteht und vergeht ohne Bewegung. Jede Entwicklung, jede Kunst setzt Bewegung voraus. Seneca aber sucht nach einer ersten und allgemeinen Ursache, die so einfach sein muss wie die Materie.

Wer nach dieser einzigen Ursache sucht, könnte die Antwort in der wirkenden Vernunft finden. Seneca ist davon überzeugt, dass sich alle vorweg genannten Ursachen auf eine einzige zurückführen lassen, nämlich auf die wirkende Ursache. Nebenursachen dagegen gibt es unzählige. Seneca führt als Beispiel für eine allgemeine Ursache das Weltganze an, das als vollendetes Kunstwerk schließlich eine solche Ursache sein soll.

Von Hans Klumbies