Sekundärtugenden halten die Gesellschaft zusammen

Alle gesellschaftlichen Strukturen sind laut Immanuel Kant auf eine Ordnung angewiesen, die nach Regeln funktioniert. Die Bedeutung dieser Regeln wird erst sichtbar, wenn in einem Staat beispielsweise das Gerichtswesen nicht mehr funktioniert und die Gesellschaft im Chaos versinkt. Unordnung erzeugt Anarchie und Konfusion, die bis zur individuellen und kollektiven Hölle führen kann. Die postmodernen westlichen Gesellschaften haben diese Gefahr erkannt und haben Verfassungen und Rechtsordnungen geschaffen, die auf den Leistungen des erkennenden und gemäß seinem freien Willen handelnden Bürger aufbauen.

Zu stark ausgeprägte Sekundärtugenden schlagen ins Negative um

Unter Soziologen herrscht Einigkeit darüber, dass die Sekundärtugenden wie Bescheidenheit, Fleiß, Ehrlichkeit, Ordnungssinn und Genauigkeit die entscheidenden Faktoren sind, die eine gesellschaftliche Ordnung überhaupt erst ermöglichen. Diese Tugenden behalten nur solange ihre Gültigkeit, solange sie von der Mehrheit der Bevölkerung als sinnvoll und legitim angesehen werden. Und sie kommen nur zum Tragen, wenn die Menschen ihr Verhalten und Handeln daran ausrichten.

Wenn die Sekundärtugenden allerdings zu stark ausgeprägt sind, können sie sich auf den Menschen und die Gesellschaft sehr negativ auswirken, wie Forschungen des Heidelberger Psychopathologen Hubertus Tellenbach belegen. Der Wissenschaftler forscht über den „Typus melancholicus“, in der Fachsprache TM genannt. Die betroffenen Personen zeichnen sich durch eine übertriebene Ordentlichkeit und Gewissenhaftigkeit, sowohl in ihren Arbeits- als auch Privatleben aus.

Sie stellen hohe Ansprüche an die eigene Leistung, zeigen zwanghafte Charakterzüge und bemühen sich krampfhaft jeden Streit zu vermeiden. Scheitern diese Menschen an ihren hohen Anforderungen an sich selbst, befürchten sie, dass ihre Ordnung zusammenbricht, stellen ihr ganzes Dasein in Frage und fallen von der Melancholie in die Depression. Sie begeben sich durch ihr krampfhaftes Bemühen an rigiden Ordnungsmaßstäben festzuhalten, in große gesundheitliche Gefahr.

Die autoritäre Persönlichkeit

Aber nicht nur für das Individuum, sondern auch für die ganze Gesellschaft kann es zur Bedrohung werden, wenn zu viele Menschen sich Autoritäten unterordnen und eine übermäßig reglementierte Staatsordnung befürworten. Die Sozialforscher Theodor W. Adorno, Else Frenkel-Brunswick, R. Nevitt Sanford und Daniel J. Lewison haben bei ihren Forschungen über „Die autoritäre Persönlichkeit“ herausgefunden, dass dieser Menschentyp sehr leicht zum Anhänger rechtsextremer oder faschistischer Bewegungen werden kann.

Autoritäre Persönlichkeiten sind Menschen, die nach oben buckeln und nach unten treten. Sie vergöttern die Autoritäten der Eigengruppe, und suchen sich unter Schwächeren und Minderheiten ihre Opfer. Ihr Weltbild richten sie an Äußerlichkeiten aus und demonstrieren in ihrer Gruppe förmliche Angepasstheit. Zu ihren Schandtaten fühlen sie sich moralisch berechtigt. Die Sozialwissenschaftler nennen eine derartige Verhaltensweise autoritäre Aggression.

Von Hans Klumbies

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