Rudolf Eucken analysiert den Ursprung des Wahrheitsbegriffs

Die Wahrheit gehört zu den Begriffen, die auf den ersten Blick einfach, ja beinahe selbstverständlich erscheinen, die aber umso komplizierter werden, je genauer man den Begriff untersucht. Rudolf Eucken erklärt: „Wenn das Alltagsleben von Wahrheit redet, so will es nur ein Bild, eine Meinung, eine Behauptung mit dem Tatbestande vergleichen, auf den sie sich bezieht; soweit dieser Tatbestand dem Bereich der Erfahrung angehört, ist solche Vergleichung leicht; es kann hier Wahrheit unbedenklich als eine Übereinstimmung unserer Vorstellung mit dem Gegenstande gelten.“ Aber dieser Wahrheitsbegriff kann seiner Meinung nach dem Menschen schon deshalb nicht genügen, weil es ihn treibt, die natürliche Verkettung der Erscheinungen zu durchbrechen, über die Welt nachzudenken und sein Verhältnis zu ihr abzuwägen. Der Mensch entwickelt dabei einen eigenen Kreis von Gedanken, die er von der Welt der Dinge unterscheidet und muss sich dabei fragen, wie weit sein Denken den Dingen entspricht.

Das Ziel des griechischen Wahrheitstrebens war die Welterkenntnis

Es scheint damit dem Menschen laut Rudolf Eucken eine große Aufgabe gestellt, da er einen dichten Nebel durchdringen soll, der ihm die Dinge verhüllt. Zugleich scheint damit aber das Leben den schwankenden Meinungen der Individuen überlegen zu werden und eine innere Festigkeit zu erlangen. Rudolf Eucken weist dabei allerdings auf einen Widerspruch hin: „Die Dinge lassen sich nicht zugleich von uns entfernen und zu uns zurückziehen, der Begriff der Wahrheit als eines Abbildes der Wirklichkeit, als Übereinstimmung unseres Vorstellens mit einer daneben befindlichen Welt, braucht nur genauer durchdacht zu werden, um sich als unhaltbar zu erweisen.“

Rudolf Eucken weist darauf hin, dass im griechischen Altertum die Philosophen ihre Hauptaufgabe darin sahen, das Verhältnis des Menschen zur Welt zu voller Klarheit herauszuarbeiten. Das Ziel ihres Wahrheitsstrebens war das Welterkennen, die Aneignung der Welt. Zuerst herrschte dabei der Gedanke einer Wesensverwandtschaft zwischen dem Universum und dem denkenden Menschen vor, dann tritt beides auseinander und der Mensch muss bei sich selbst untrügliche Kennzeichen der Wahrheit zu ermitteln suchen.

Das Wirken und das Wesen der Dinge bildet noch eine Einheit

Das Denken erhält dabei das Vermögen zugesprochen, sich selbst zur allumfassenden Welt zu gestalten und den Gegensatz von Subjekt und Objekt zu überbrücken. Rudolf Eucken ergänzt: „In der klassischen Zeit eines Plato und eines Aristoteles wirkt die Beseelung der Weltumgebung noch nach, die der naiven Denkweise angehört, und die dem Menschen das Verhältnis zur Welt als einen Verkehr mit seinesgleichen gestaltet.“ Es scheinen dabei dieselben Kräfte, die das Leben eines Menschen bewegen, auch das Universum zu beherrschen.

Die Wahrheit ist für Rudolf Eucken hier noch eine Übereinstimmung des Subjekts mit dem Objekt, des Denkens mit dem Sein und das Erkennen nichts anderes als die Entwicklung der Wesensverwandtschaft des Geistes mit dem Universum. So darf hier seiner Meinung nach die freudige Zuversicht walten, die volle Wahrheit der Dinge zu ergreifen und das Leben des Universums unverfälscht mitzuerleben. Rudolf Eucken schreibt: „Hier darf man hoffen, die Tiefe der Dinge sich anzueignen, da sich noch keinerlei Spalt zwischen einem Wirken und Wesen der Dinge aufgetan hat, im Wirken vielmehr das ganze Sein gegenwärtig ist.“

Von Hans Klumbies