Rudolf Eucken fragt nach dem Sinn und Wert des Lebens

In ruhigen Zeiten macht die Frage nach dem Sinn und dem Wert des menschlichen Lebens Rudolf Eucken wenig Sorgen, denn das Wirken und der Stand der Gesellschaft enthält dann so bestimmte Ziele und zeigt diese so deutlich dem Individuum, dass erst gar keine Zweifel und Fragen aufkommen. Selbst wenn Schwankungen und Streit in der Gemeinschaft entstehen, dann betrieft das nicht die Ziele selbst, sondern nur den Weg dorthin. Diese Tatsache rührt nicht an dem gemeinsamen Grundstock des Lebens. Erst wenn Verwicklungen und Spaltungen in den Lebenseinstellungen sich durchsetzen, entsteht dadurch Denken und Grübeln in starker Bewegung und erzeugt immensen Streit. In der Moderne beherrscht das Suchen und Streiten um den Sinn des Lebens die Gesellschaft und entfremdet die Menschen einander.

Der Kampf der Individuen untereinander betrifft das Leben selbst

Das Leben an sich fasst sich laut Rudolf Eucken heute nicht in ein Ganzes zusammen und entbehrt eines beherrschenden Mittelpunktes, eines gemeinsamen Charakters. Rudolf Eucken schreibt: „Bald wird eine unsichtbare, bald die sichtbare Welt als Standort des Lebens ergriffen, bald erscheint das Verhältnis zur Natur, bald das zur Menschheit zur Herrschaft berufen, bald scheint innerhalb der Menschheit das große Ganze, bald das Individuum voranzustehen.“

Je nachdem wie sich ein Mensch darüber entscheidet, gestaltet sich sein Leben völlig verschieden von anderen, denn anders erscheinen sein Kern und seine Güter. Anderes verlangt das Leben von einer Person, andere Wege schreibt es ihr vor. Es gehen für Rudolf Eucken nicht nur die Bilder, sondern auch die Wirklichkeiten auseinander, der Kampf der Individuen untereinander betrifft nicht nur die Deutung, sondern das Leben selbst. Wer dabei ganz und gar in einer gesellschaftlichen Strömung aufgeht, der bleibt frei von innerer Unruhe, da er allem Zweifel enthoben ist.

Anpassung wird allzu teuer mit geistiger Kurzsichtigkeit bezahlt

Aber dieser angepasste Mensch bezahlt diese vermeintliche Sicherheit in der Masse allzu teuer mit starrer Enge und einer Kurzsichtigkeit des Geistes. Wer dagegen für das Ganze der Zeit ein offenes Auge hat und den gesellschaftlichen Entwicklungen unbefangen gegenübertritt, wer also das Geschick der Menschheit auch als sein eigenes Schicksal betrachtet, der gerät durch die Spaltung innerhalb der Gesellschaft in die missliche Lage, die er unmöglich in Ruhe hinnehmen kann.

Jede der verschiedenen gesellschaftlichen Strömungen und Bewegungen scheint Wahrheiten zu enthalten, auf die sich nicht leicht verzichten lässt, aber diese scheinbaren Wahrheiten widersprechen einander und die Menschen erkennen nicht mehr die Möglichkeit einer friedlichen Verständigung. Es fehlen ein beherrschendes gesamtgesellschaftliches Ziel sowie ein normierender Maßstab. Rudolf Eucken schreibt: „Die unbestreitbaren Erfolge im einzelnen verbinden sich nicht zu einem Gesamtergebnis und greifen daher nicht genügend in das Ganze der Seele zurück, sie belassen es in Unsicherheit und Leere.“

Von Hans Klumbies