Selbstmitleid kann schnell zu einer Paranoia führen

Selbstmitleid ist eine der unfruchtbarsten Reaktionen auf die Widrigkeiten des Lebens. Rolf Dobelli ergänzt: „Selbstmitleid verändert nichts. Im Gegenteil, Selbstmitleid ist ein emotionaler Wirbel, ein Strudel, der einen, je länger man darin schwimmt, nur noch weiter hinunterzieht.“ Darin gefangen, verfallen Menschen schnell der Paranoia. Sie haben dann das Gefühl, eine Gruppe von Menschen, die ganze Menschheit oder gar das Universum habe sich gegen sie verschworen. Ein Teufelskreis für die Betroffenen, aber auch für die Mitmenschen, die sich verständlicherweise irgendwann von ihnen fernhalten. Sobald Rolf Dobelli bei sich die ersten Anzeichen von Selbstmitleid wahrnimmt, versucht er sich sofort aus diesem gefährlichen Sog zu befreien. Der Bestsellerautor Rolf Dobelli ist durch seine Sachbücher „Die Kunst des klaren Denkens“ und „Die Kunst des klugen Handelns“ weltweit bekannt geworden.

Selbstmitleid ist ein katastrophal falsches Denken

Der Investor Charlie Munger erzählt die Geschichte eines Freundes, der immer einen Stapel vorgedruckter Kärtchen bei sich trug. Wenn er jemanden traf, der auch nur ein bisschen Selbstmitleid zeigte, hob er mit einer theatralischen Geste die oberste Karte vom Stapel und händigte sie dieser Person aus. Auf der Karte stand gedruckt: „Ihre Geschichte hat mich aufs Tiefste berührt. Ich kenne niemanden, dem es schlechter geht als Ihnen.“ Eine witzige, erfrischende, auch ein bisschen gefühllose Art, anderen ihr Selbstmitleid vorzuhalten.

Doch Charlie Munger hat recht: Selbstmitleid ist ein katastrophal falsches Denken. Umso erstaunlicher, dass Selbstmitleid in den letzten Jahrzehnten eine erstaunliche Karriere gemacht hat, insbesondere in From des sogenannten „Aufarbeitens“. Rolf Dobelli erläutert: „Da ist zum einen das gesellschaftliche Aufarbeiten, bei dem große Gruppen von Menschen sich als Opfer von teilweise Hunderte von Jahren zurückliegender Vorfällen fühlen.“ Ganze Abteilungen von Universitäten sind damit beschäftigt, die historischen Wurzeln dieser Opferrollen freizulegen und bis in die feinsten Verästelungen zu analysieren.

Kollektives Selbstmitleid ist ebenso unergiebig wie individuelles

Rolf Dobelli rät die Unbill der Vergangenheit zu akzeptieren und zu versuchen die Widrigkeiten der Gegenwart entweder zu managen oder zu ertragen. Kollektives Selbstmitleid ist ebenso unergiebig wie individuelles. Eine zweite Form der „Aufarbeitung“ ist jene im persönlichen Bereich. Auf der Coach des Therapeuten wühlt der Patient in seiner eigenen Kindheit und findet dabei allerlei Dinge, die er lieber vergessen hätte – die man aber prima für die aktuelle, vielleicht ebenfalls nicht optimale Situation verantwortlich machen kann.

Das ist in zweierlei Hinsicht problematisch. Rolf Dobelli weiß: „Erstens gibt es ein Ablaufdatum für die Beschuldigung der anderen, insbesondere der eigenen Eltern. Wer noch mit vierzig die Eltern für seine Probleme verantwortlich macht, ist so verdammt unreif, dass er diese Probleme schon fast verdient hat.“ Zweitens zeigen Studien, dass selbst harte Schicksalsschläge in der Kindheit – Tod der Eltern, Scheidung, Vernachlässigung, sexueller Missbrauch – kaum mit dem Erfolg oder der Zufriedenheit im Erwachsenenalter korrelieren. Quelle: „Die Kunst des guten Lebens“ von Rolf Dobelli

Von Hans Klumbies