„Wofür lohnt es sich zu leben?“ ist ein Gradmesser der Vernunft

Bei den Erscheinungen der Gegenwartskultur ist es traurig, wenn man miterleben muss, aber andererseits auch nicht unkomisch, wenn man beobachten darf, wie dass, was die Menschen Vernunft nennen, und alle Maßnahmen, die sie im Namen einer solchen Vernunft treffen, sich regelmäßig in ihr Gegenteil – in schiere Unvernunft verwandelt. Robert Pfaller nennt Beispiele: „Wenn wir zum Beispiel Vernunftmaßnahmen ergreifen der Sicherheit zuliebe, dann lassen wir Eingriffe zu, die unsere Bürgerrechte oder unsere Würde – oder beides – völlig vernichten. Oder wenn wir Vernunftmaßnahmen ergreifen zugunsten der Umwelt, Gesundheit oder Kosteneffizienz, dann setzen wir solche, die uns die Lebensfreude ruinieren.“ Wenn die Menschen der Überzeugung sind, dass sie ökologischeren Treibstoff verwenden sollten, dann treffen sie Maßnahmen, die die Getreidepreise in die Höhe treiben und Millionen Menschen an den Rand einer Hungersnot bringen. Robert Pfaller ist Professor für Philosophie an der Universität für angewandte Kunst in Wien.

Die Vernunft schlägt in der Gegenwart regelmäßig in Unvernunft um

Robert Pfaller behauptet, dass dieses Sichverkehren von vermeintlicher Vernunft in Unvernunft ein typisches Phänomen der Gegenwart darstellt. Allgemein stellt er fest, dass das, was heute den Namen Vernunft trägt, regelmäßig etwas Exzessives, Panisches und Blindes an sich hat. Dadurch zerstören diese sogenannten Vernunftmaßnahmen immer häufiger das, wofür es sich zu leben lohnt. Die Frage „Wofür lohnt es sich zu leben?“ ist ein Gradmesser der Vernunft – ein Rationalitätskriterium.

Das Wichtige dieser Frage besteht für Robert Pfaller nicht darin, dass die Menschen versuchen, Antworten zu finden, um beispielsweise entscheiden zu können, ob es besser wäre, ein Kind zu bekommen oder doch eher ein Tier anzuschaffen. Das ist zwar eine berechtigte Frage, auf die man auch eine Antwort finden kann. Aber der entscheidende Wert dieser Frage, wofür es sich zu leben lohnt, ist ein ganz anderer: „Er liegt im Akt, diese Frage zu stellen, und damit alles, was wir Vernunft nennen, an dieser Frage zu messen.“

Absolute Prinzipien kehren sich gegen die Menschen

Denn nur wenn die Menschen das tun, bekommen alle Formen von Teilvernunft, auf die sie in der Gegenwart so viel Rücksicht nehmen, ihren eigentlichen Sinn. Nur wenn die Menschen sie an dieser Frage messen, „Wofür lohnt es sich eigentlich zu leben?“, hindern sie diese Formen von Teilvernunft daran, sich in völlige Irrationalität zu verwandeln. Robert Pfaller fügt hinzu: „Denn nur gemessen an dieser Frage, haben teilvernünftige Prinzipien wie Sicherheit, Gesundheit, Umweltschutz, Kosteneffizienz et cetera ihre partiellen Sinn. Nur eine Vernunft, die dieser Frage standhält, verdient ihren Namen.

Wenn die Menschen dagegen eines dieser Prinzipien absolut setzen; wenn sie beispielsweise sagen: „Jetzt müssen wir sofort alles tun für die Gesundheit“, dann kehrt sich die Gesundheit gegen die Menschen und gegen das, wofür es sich zu leben lohnt. Robert Pfaller ergänzt: „Vielmehr, wenn wir die Gesundheit absolut setzen und sie nicht messen an der Frage, wofür es sich zu leben lohnt, dann sind Menschen plötzlich für ihre Gesundheit da, und nicht die Gesundheit für die Menschen. Und dann beginnen die Individuen plötzlich der Gesellschaft Gesundheit zu schulden. In diesem Zustand befinden wir uns heute.“

Von Hans Klumbies