Richard Wilhelm erklärt die Philosophie des Laotse

Laotse ist der Name, unter dem der Philosoph Lao Dan aus der Familie Li in die europäische Literatur eingegangen ist. Er stammt ganz aus dem Süden des damaligen Chinas und dürfte um 550 vor Christus geboren sein. Er arbeitet in Lo Yang als königlicher Bibliothekar. Das berühmteste Buch von Laotse ist das so genannte Taoteking, ein klassisches Buch vom Sinn und Leben, in der Form von Aphorismen niedergeschrieben. Richard Wilhelm erklärt: „Es enthält Zitate und Zusätze und ist in seiner heutigen Form sicher nicht von Laotse persönlich aufgezeichnet. Aber die philosophische Weltanschauung, die es enthält, ist vollkommen geschlossen und einheitlich.“

Laotse steht der Schule der Orakelpriester nahe

Der philosophische Grundbegriff des Laotse, der zur Bezeichnung einer der drei großen Geistesrichtungen Chinas geworden ist, ist laut Richard Wilhelm das chinesische Wort Tao, das als Dao ausgesprochen wird. Ursprünglich bedeutet das Wort Weg oder Bahn. Es ist zusammengesetzt aus den Zeichen „Kopf, Haupt“ und „gehen“, wodurch es also die Richtung und den Sinn der Bewegung andeutet. Richard Wilhelm ergänzt: „Das Wort trifft zusammen mit dem Wort, das in der alten Religion als „Bahn des Himmels“ bezeichnet wurde. Es hat bei Laotse aber einen darüber hinaus gehenden Sinn.“

Das Tao des Laotse ist für Richard Wilhelm nicht durch Analogie oder Übertragung einer kosmischen Tatsache zu verstehen. Es handelt sich seiner Meinung nach hier nicht um den Versuch einer Welterklärung aus einem Prinzip heraus. Richard Wilhelm ergänzt: „Sondern was Laotse im Sinn hat, ist ein unmittelbares Erlebnis. Laotse steht der Schule der Orakelpriester nahe. Die Anschauungen des Buchs der Wandlungen stimmen in allen wesentlichen Stücken mit den seinen überein.“

Das Nichtseiende ist die Wurzel allen Seins

Doch bei Laotse findet man gemäß Richard Wilhelm noch eine tiefer schürfende Erkenntnisquelle als die Praxis des Orakels, nämlich die mystische Versenkung in einen Zustand, der jenseits des rationalen Erkennens liegt. Richard Wilhelm schreibt: „Es ist wahrscheinlich, dass solche Trancezustände bei den Magiern des Altertums hervorgerufen wurden. Das Entscheidende an Laotse ist nur, dass er in kurzen fragmentarischen Aufzeichnungen und Andeutungen an seine Schüler Rechenschaft gegeben hat von dem Inhalt solcher Erlebnisse des Überbewusstseins.“

Dieses Erlebnis ist für Richard Wilhelm etwas schlechthin Transzendentes, das weder ausgesprochen, noch erklärt werden kann. In der Kategorie der äußeren Welt ausgedrückt, kann es seiner Meinung nach nur als das Nichtseiende bezeichnet werden. Richard Wilhelm erläutert: „Dieses Nichtseiende ist aber nicht die schlechthinnige Abwesenheit von Etwas, sondern es ist die Wurzel des Seins, aus der Himmel und Erde, das Zeitliche und das Räumliche erst ihren Anfang nehmen. Es ist die Eins, aus der die Zwei der Polarität erst entsteht.“  

Von Hans Klumbies