Die Reichsgründung 1871 ist die Geburt einer verspäteten Nation

Mit der Reichsgründung von 1871 holten die Deutschen nach, was in Westeuropa sich schon einige Zeit früher und unter anderen Bedingungen vollzogen hatte: die Verwirklichung eines Nationalstaates. Das Deutsche Reich von 1871 war, im Sinne der demokratischen Idee der nationalen Selbstbestimmung der europäischen Völker, kein reiner Nationalstaat. Er war auch kein ausgeprägter Verfassungsstaat im Sinne der konstitutionellen Selbstbestimmung. Aber zur Zeit seiner Entstehung war das Deutsche Reich außenpolitisch die naheliegende und realistische Form, die sogenannte deutsche Frage zu lösen. Nur die kleindeutsche Lösung war mit den Interessen der übrigen Staaten in Europa eben noch zu vereinbaren. Die Alternative eines alle Deutschen umfassenden demokratisch-republikanischen Einheitsstaates oder einer großdeutschen Föderation war zur damaligen Zeit nicht zu verwirklichen. Nur das Bündnis der geschwächten Nationalbewegung mit der nationalen Führungsmacht Preußen, versprach noch die Realisierung der nationalen Einheit.

Sozialisten und Katholiken werden zu Reichsfeinden erklärt

Die deutsche Einigung wurde in den Kriegen von 1864, 1866 und 1870/71 errungen. Otto von Bismarck agierte dabei keineswegs als militärischer Abenteurer. Er führte seine Kriege, um begrenzte politische Ziele durchzusetzen, aber es ging ihm niemals darum, den Gegner vollständig zu vernichten. Dennoch war das Deutsche Reich ein Kind des Krieges, was noch nicht vorhersehbare Folgen für seine internationale Situation als auch für seine innere politische Kultur haben sollte.

Die Nachbarn des Deutschen Reichs waren durch die kraftstrotzenden Militär- und Industriemacht Preußen beunruhigt. Die Militärmonarchie Preußens, der obrigkeitsstaatliche Verwaltungsstaat und die traditionellen Führungsgruppen behaupteten im Deutschen Reich das Zentrum der Macht. Zudem sollte die polarisierende Innenpolitik von Otto von Bismarck noch lange den Prozess der inneren Nationenbildung negativ belasten. Die sozialmoralischen Lager rückten fester zusammen. Sozialisten, Katholiken und ethische Minderheiten wurden zu Feinden des Deutschen Reiches erklärt.

Die monarchische Spitze dominiert weiterhin den Reichstag

Der Staat Otto von Bismarcks brachte zwar die ersehnte Einheit, aber sicherlich nicht zu den Bedingungen, wie sie sich die Liberalen vorgestellt hatten. Otto von Bismarck gewährte gerade so viele konstitutionelle Elemente, wie es mit den Interessen der Machteliten Preußens vereinbar war. Die Verfassung des Deutschen Reiches basierte auf einem komplizierten, unausgewogenen System. Es setzte sich aus sowohl aus föderativen, parlamentarischen und unitarischen als auch aus monarchisch-autoritären Elementen zusammen.

Die monarchische Spitze behielt die beherrschende Stellung gegenüber dem Reichstag. Dieser war zwar aus allgemeinen, direkten und gleichen Wahlen hervorgegangen, konnte andererseits allerdings keinen unmittelbaren Einfluss auf die Exekutive ausüben. Außerdem waren in die Verfassung verschiedene Sicherungssysteme eingebaut. Die Führungsrolle Preußens war über die Konstruktion des Bundesrates manifestiert. In Preußen selbst bestand zudem weiterhin das Drei-Klassen-Wahlrecht von 1849/50.

Von Hans Klumbies