Rebekka Reinhard beklagt den Verlust der Phantasie

Der Mensch will die Realität, die ihm unübersichtlich erscheint, nicht noch komplizierter machen. Für Rebekka Reinhard scheint das Leben als eine Abfolge von Modulen, die sich der Mensch je nach Bedarf bestellt und wieder abbestellt, von der heutigen Wirklichkeit gar nicht mehr weit entfernt zu sein. Das Leben der Menschen ist voll von Gegenständen, die sie eigentlich nicht brauchen, aber zu denen sie sich doch irgendwie verhalten müssen. Der Mensch ist immer viel zu beschäftigt, um einmal nichts zu tun. Die wenigsten Menschen fragen sich warum sie das tun, was sie tun. In einer Welt, in der der Mensch für jede Frage einen Experten hat, der ihn zur besten Lösung führt, braucht niemand mehr an überflüssigem Leid zugrunde zu gehen.

Den Menschen fehlt eine grundsätzliche Orientierung

Die Philosophin schreibt: „Überflüssiges Leid – Leiden an schweren Schicksalsschlägen, an der eigenen Schwäche, an Unfähigkeit oder gar Unmoralität – darf nicht sein. Es gilt als lästig und ineffizient.“ Die meisten Menschen wissen ganz genau, welche Fähigkeiten sie in welcher Lebenssituation brauchen. Das Anwendungswissen des Menschen ist enorm. Er funktioniert. Funktionieren hat laut Rebekka Reinhard nicht mit gut und böse zu tun. Funktionieren hat für sie an sich keinen Sinn.

Rebekka Reinhard ist davon überzeugt, dass dem ewig anpassungswilligen Menschen eine grundsätzliche Orientierung fehlt, hinsichtlich seines Menschseins und Selbstseins. Nur noch die wenigsten suchen nach Antworten auf Fragen wie: „Wer sind wir?“ oder „Wozu brauchen wir Werte.“ Meistens wird von den Menschen nur Geschäftigkeit verlangt. Solange der Mensch beschäftigt ist, funktioniert er nämlich. Die Philosophin schreibt: „Mit unserem Beschäftigtsein sichern wir das Funktionieren der Gesellschaft. Ein Rädchen greift ins andere. Bis das Unerwartete geschieht.“

Viele Menschen leiden am Gefühl des Ungenügens

Kulturelle Einrichtungen, die eine Perspektive jenseits bestimmter Perfektionsideale erschließen, sind laut Rebekka Reinhard rar. Sie schreibt: „Früh übt sich, wer im globalen Wettbewerb mithalten will. Schon im Kindergarten geht es darum, wer mehr englische oder französische Vokabeln beherrscht, wer mehr Medaillen für seine Leistungen einheimst. Die heutigen Bildungseinrichtungen sind angehalten, sich weniger um Fragen der Identität oder Werteorientierung zu kümmern, als um den künftigen Marktwert ihrer Kunden.“

Die Erwartungen an die Leistungsbereitschaft der Menschen sind in der heutigen Zeit grenzenlos. Schon die Jugendlichen müssen feststellen, dass es nie ein Zuviel an Leistung gibt, immer nur ein Zuwenig. Wer am besten funktioniert, leistet am meisten. Dadurch entsteht bei vielen ein Gefühl des ständigen Ungenügens. Von den Menschen wird erwartet, dass sie funktionieren, ohne zu fragen warum. Die Philosophin kritisiert: „Doch Menschen die verlernen, Fragen zu stellen, verlieren ihre Neugier. Ihnen fehlt die Phantasie, das Leben selbst in die Hand zu nehmen.“

Von Hans Klumbies