Rebekka Reinhard setzt auf die geistige Freiheit

Viele Menschen zeichnen sich laut Rebekka Reinhard durch ein übermäßiges Sicherheitsdenken, die Verliebtheit in das eigene Ich, einen moralischen Relativismus und Phantasielosigkeit aus. Sie sind darauf geeicht, jeglichen Irrtum als Zeitverschwendung und teuren Fehlschlag einzustufen. Sie haben verlernt, im Ungewissen zu bleiben, das Unvorhergesehene und Uneindeutige nicht nur auszuhalten, sondern auch neugierig zu bejahen. Trotz seiner vielfältigen Möglichkeiten schnell und sicher von einem Ort zu einem anderen zu gelangen und Expertenwissen nutzen zu können, sind die Menschen heutzutage bemerkenswert desorientiert. Rebekka Reinhard schreibt: „Allerdings nutzen wir die Desorientierung nicht wie Odysseus dazu, das Unbekannte zu erforschen und uns und unser Leben neu zu entdecken. Wir wissen ja oft nicht einmal, dass wir desorientiert sind.“

Die Menschen haben ihre Heimat und ihre kulturellen Wurzeln verloren

Für Rebekka Reinhard scheint die Identität vieler Menschen heute so wenig fest verwurzelt zu sein wie ihr Ehebett. Sie wissen nicht mehr, nach welchen Werten und Sehnsüchten sie leben sollen, geschweige denn wo oder was ihre Heimat ist. Sie können sich auf nichts mehr beziehen, erkennen nicht mehr, wer sie sind und was ihnen wirklich wichtig ist. Dennoch besteht für die Philosophin kein Grund zur Verzweiflung. Der Mensch sollte nicht klagen, dass alles immer schlechter wird, sondern sich mit der Realität auseinandersetzen.

Im Zeitalter der Globalisierung sind den Menschen ihre kulturellen Wurzeln fremd geworden. Aber wenn sie nicht wissen, woher sie kommen, wissen sie auch nicht, wohin sie gehen sollen. Rebekka Reinhard schreibt: „Kunstvolles Irren braucht nicht nur einen Endpunkt, sondern auch einen Anfang.“ Einen der Anfänge macht sie in der versunkenen altgriechischen Kultur fest. Sie zitiert Sokrates, für den die Philosophie nicht nur eine theoretische Disziplin, sondern zugleich eine Lebensform war.

Auch Unsicherheit und Ungewissheit können eine Heimat bieten

Das Ziel des Philosophen war es, frei und bewusst zu leben, sich nicht zum Sklaven zu machen, weder der äußeren Umstände, noch derer, die einen regieren. Die Freiheit sollte auch nicht von den eigenen Leidenschaften, Sorgen und Ängsten unterjocht werden. Außerdem gehörte es zu den Präferenzen des griechischen Denkers, für seine Mitmenschen da zu sein. Rebekka Reinhard erklärt: „Die Philosophie sollte eins mit dem Leben sein. Philosophie als lehr- und lernbare Lebenskunst sollte dem Einzelnen helfen, sich selbst zu verwandeln, bis er das wird, was er ist: Mensch.“

Der Wert des Nur-Mensch-Seins ist in der heutigen hektischen Welt laut Rebekka Reinhard allerdings nur schwer zu erkennen. Sie zitiert den römischen Kaiser Marc Aurel, der die Menschen ermutigt, ihre Unvollkommenheit zu akzeptieren und das Beste daraus zu machen. Dies ist dann möglich, wenn die Menschen ihren Anspruch auf äußere Sicherheit aufgeben und sich dem lebenslangen Einüben der inneren Sicherheit, das heißt ihrer geistigen Freiheit widmen. So ist es tatsächlich möglich, sich auch im Unsicheren und Ungewissen zu Hause zu fühlen.

Von Hans Klumbies