Der deutsche Realismus zeichnet sich durch Verklärung und Harmonie aus

Die Literatur in der Epoche nach der Revolution von 1848 ist schwer unter einem einheitlichen Aspekt zu beschreiben: Einerseits steht sie noch immer unter dem Leitbild Johann Wolfgang von Goethes, andererseits waren besonders Schriftsteller des liberalen Lagers schon seit 1830 nicht mehr bereit, dem „Fürstenknecht“ nachzueifern. Sie standen in deutlicher, oft auch polemischer Opposition zur idealistischen und romantischen Literaturauffassung. Der Begriff „Realismus“ wurde in Europa zwischen 1830 und 1880 als allgemeiner kunsttheoretischer Terminus für die neue Literatur und zugleich als Selbstkennzeichnung des künstlerischen Standpunkts dieser Epoche benutzt. Man ging von der Wiedergabe der zeitbezogenen Aktualität aus, glaubte alle wichtigen Zusammenhänge – soziale, ökonomische, politische – an der gesellschaftlichen und individuellen Entwicklung der Figuren eines Romans, einer Novelle oder eines Dramas darstellen und auf diese Weise „das Leben“ beschreiben zu können.

Die deutsche Literatur nach 1848 stand immer noch unter dem Einfluss der Klassiker

Während aber die französischen Realisten schon um 1830 die Haltung der handelnden Figuren ihrer Romane als bürgerliche Illusion oder Selbstbetrug darstellten, zeichnete die deutschsprachige Dichtung des Realismus sich durch Verspätung (sie begann erst nach 1848), durch distanzierenden Humor aus. Außerdem durch eine zur Idylle neigende Resignation und oft durch starke landschaftliche oder provinzielle Bindung der Menschen. Also Verklärung und Harmonie statt Kritik und Aufklärung.

Von den deutschen Schriftstellern und Werken aus dieser Zeit sind mehr als die Hälfte längst vergessen, sogar der Nobelpreisträger von 1910, der Novellendichter Paul Heyse. Folgt man nach 1848 der Rezeption dieser Literatur, so stand sie für den Leser noch immer unter dem Glanz und den Normen der großen Klassiker, die mehr und mehr als Träger eines Nationalgedankens interpretiert wurden. Die Abwendung von jeder weltbürgerlichen Tendenz hin zu einem manchmal überheblichen Nationalismus gegenüber Polen, Juden und Franzosen gipfelte in Emanuel Geibels Satz vom „deutschen Wesen“, an dem die Welt genesen werde.

Die Deutschen waren ein „Volk ohne Buch“

Auch wenn das Wunsch- und Leitbild der Goethezeit nicht völlig überwunden wurde, bildete sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Kanon realistischer Erzähler heraus: Jeremias Gotthelf, Gottfried Keller, Theodor Storm, Theodor Fontane, Adalbert Stifter, Conrad Ferdinand Meyer und Wilhelm Raabe. Als Dramatiker hatten Friedrich Hebbel und Franz Grillparzer große Erfolge. Die Lyrik stand trotz Heinrich Heine von allen Dichtungsgattungen noch am stärksten unter dem Einfluss Johann Wolfgang von Goethes.

Das Zerbrechen der aufklärerischen Perspektive am Anfang des 19. Jahrhunderts und die Wendung von einer weltbürgerlichen Tendenz zu einem nationalistischen und imperialen Messianismus hatte Folgen, die zunächst positiv zu sein schienen: Es bildete sich – nach 1867 unterstützt durch die raschen Erfolge von Reclams Universalbibliothek in den deutschen Gymnasien – eine literarische Tradition, die die Lebensgewohnheiten bestimmter Teile des „Volkes ohne Buch“, das die Deutschen bisher gewesen waren, nachhaltig veränderte. Quelle: „Deutsche Literaturgeschichte“ aus dem Verlag J. B. Metzler

Von Hans Klumbies