Ein Skandal muss nicht zum Verfall der Sitten führen

Skandale können laut Professor Dr. Ingo Pies, der Wirtschaftsethik an der Universität Halle-Wittenberg lehrt, gesellschaftliche Lernprozesse fördern und dazu beitragen, dass sich das Zusammenleben der Bürger verbessert. Skandale können seiner Meinung nach aber auch zu unnötigen persönlichen Verletzungen führen oder gesellschaftlichen Blockaden im Denken und Handeln zementieren. Professor Dr. Ingo Pies hat einige Thesen aufgestellt, die dazu beitragen sollen, den gesellschaftlichen Umgang mit Skandalen zu kultivieren. Seine erste These lautet: „Skandale sind nicht mit Sittenverfall gleichzusetzen. Das Gegenteil ist richtig. Eine Skandaliserung kommuniziert im Modus öffentlicher Entrüstung, dass eine bestimmte Norm unnötigerweise verletzt wurde. Auf diese Weise trägt der Skandal zur kollektiven Selbstvergewisserung bei, dass die Norm weiterhin Geltung haben soll.“

Kein Lebensbereich ist vor einem Skandal sicher

Sittenverfall läge für Professor Dr. Ingo Pies dort vor, wo das beanstandete Fehlverhalten mit dem Achselzucken zynischer Reaktion quittiert wird. Erst dadurch, dass die Bürger die Verletzung eines Standards nicht akzeptieren, kommt es überhaupt zu einer öffentlichen Empörung. Deshalb schwächt ein Skandal die Norm nicht, sondern stärkt sie. Eine soziale Aufgabe erfüllen Skandale aber nur, wenn sie zu institutionellen Vorkehrungen führen, die das beanstandete Fehlverhalten in Zukunft systematisch erschweren.

Skandale sind laut Professor Dr. Ingo Pies deshalb auch ein Vehikel für institutionellen Fortschritt durch pathologisches Lernen, ganz nach dem Motto, dass man aus Schaden klug werden sollte. Gelingende Skandalisierung soll so die Selbstreinigungskräfte der Gesellschaft in Gang setzen. Dabei darf es allerdings nicht rückwärtsgewandt um Rache gehen, sondern vorwärtsschauend um Vorbeugung. Ein Skandal kann gemäß Professor Dr. Ingo Pies in allen Lebensbereichen auftreten.

Die produktive Skandalisierung hat in der Demokratie leider ihre Grenzen

Skandale gibt es unter anderem in der Politik, in der Wirtschaft, in der öffentlichen Verwaltung und im Bereich der gesellschaftlichen Organisationen. Zudem gibt es für Professor Dr. Ingo Pies ein scheinbares Paradox in der Skandalisierung. Er erklärt: „Einerseits erzeugt der Skandal Misstrauen gegenüber einer Person, der Fehlverhalten vorgeworfen wird. Andererseits kann genau dies zum Aufbau vom Systemvertrauen führen, sofern die verletzte Norm institutionell gestärkt wird.“

Für Professor Dr. Ingo Pies gibt es in der modernen Gesellschaft leider Grenzen für eine produktive Skandalisierung, da sich nicht alle Missstände gleichermaßen öffentlich anprangern lassen. Professor Dr. Ingo Pies erläutert: „Je abstrakter beziehungsweise je „systemischer“ ein Problem ist, desto weniger skandalsierungsfähig ist es.“ Dadurch kann es zu demokratischen Defiziten der Aufmerksamkeit kommen. Dinge die eigentlich Ärger und Empörung erzeugen müssten, geraten in einem solchen Fall nicht in den Fokus der Medien und erzeugen somit auch keine öffentliche Diskussion.

Von Hans Klumbies