Nach 1918 brachen die europäischen Demokratien aus vier Gründen zusammen

In seinem Buch „Höllensturz“, das sich mit der Zwischenkriegszeit auseinandersetzt, beschreibt der britische Historiker Ian Kershaw vier Faktoren, die nach 1918 zum Zusammenbruch der europäischen Demokratien führten: Erstens die explosionsartige Ausbreitung eines ethnisch-rassistischen Nationalismus. Zweitens erbitterte und unversöhnliche territoriale Revisionsforderungen. Drittens ein akuter Klassenkonflikt. Viertens eine langanhaltende Krise des Kapitalismus. Philipp Blom schreibt: „Man muss nicht lange suchen, um in dieser Vergangenheit unsere Gegenwart zu erkennen. Keine Facette, die sich in dieser Aufzählung nicht spiegeln würde – von den nationalistisch-rassistischen Rechtspopulisten im Weißen Haus bis zur Krim und dem Krieg in der Ostukraine, von der täglich steigenden sozialen Ungleichheit bis zum Crash von 2008 und zur nächsten großen Finanzkrise eines immer weiter deregulierten Marktes.“ Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford und lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien.

Der Erste Weltkrieg kannte nur Verlierer

Der Weg der Geschichte ist nicht vorgezeichnet, aber es bedarf keiner besonders blühenden Fantasie, um sich ein Szenario mit klaren Pfaden zu einem neuerlichen, katastrophalen Bruch des zivilisierten Lebens und der Menschlichkeit vorzustellen. Wie der Historiker Christopher Clark gezeigt hat, war der Beginn des Ersten Weltkriegs auch nicht das Werk eines dämonischen Genies oder des radikal Bösen, sondern das Produkt einer Kaskade von Inkompetenz, Misstrauen, Selbstüberschätzung, Missverständnissen und Realitätsverweigerung seitens der Eliten und hysterischer Rhetorik in den Medien.

Auch damals sah man nicht, dass der Krieg diesmal anders sein würde, dass technischer Fortschritt das Wesen des Krieges unwiderruflich verändert hatte, dass aus einem solchen Krieg letztendlich nur Verlierer hervorgehen konnten, weil es auch für die Sieger zu verlustreich sein würde. Wer heute allerdings Angst hat vor Fackelzügen, Uniformen, Stechschritt und Rutenbündeln, kann ruhig schlafen, weil es so etwas nicht mehr geben wird. Eine neue Diktatur, eine neue autoritäre Demokratie hat es gar nicht nötig, sich mit dem visuellen Vokabular der 1930er Jahre zu belasten.

Nach dem Börsenkrach von 1929 konnte sich die Weimarer Republik nicht mehr erholen

Philipp Blom erläutert: „Heutige Diktatoren sehen aus wie Aufsichtsratsvorsitzende. Auch Tyrannen müssen den Fortschritt nutzen, um ihre Macht zu sichern. Heutige Autokraten haben dank Internet und Datenspuren subtilere Methoden, um ihre Bevölkerung in Angst zu versetzen und zu kontrollieren.“ Die Weimarer Republik scheiterte, nachdem der Börsenkrach von 1929 und die darauf folgende weltweite Krise der wirtschaftlichen Erholung ganz Europas die Grundlagen entzogen hatten.

Dramatisch steigende Arbeitslosigkeit und soziale Ungleichheit, weit verbreitete Armut und immer weniger handlungsfähige Staaten schufen eine Situation, die rasch außer Kontrolle geriet. Auf die Frage ob wir heutzutage wieder in einer Weimarer Republik leben, antwortet Philipp Blom mit einem klaren Nein: „Wir sind zu reich dazu, haben zu starke Institutionen, eine zu aktive Zivilgesellschaft.“ Trotzdem lässt sich seiner Meinung nach nicht leugnen, dass die Strukturen bedenkliche Ähnlichkeiten aufweisen. Noch puffert ihr Wohlstand die Gesellschaften der reichen Welt ab von einer unkontrollierbaren Spirale des sozialen Elends und der wahnhaften Gewalt, wie sie die Welt in der Zwischenkriegszeit ergriff. Quelle: „Was auf dem Spiel steht“ von Philipp Blom

Von Hans Klumbies