Ein Gesichtsverlust ist immer mit einer Demütigung verbunden

Die Menschen leben einen großen Teil ihres Lebens unter dem Blick der anderen. Sie müssen sich für sie auf eine bestimmte Weise darstellen. Sie zeigen ihnen ihr Gesicht. Dieses Gesicht ist für Peter Bieri die sichtbare Identität, die soziale Fassade, auch die Maske, hinter der sich Menschen verstecken können. Gesicht im engeren Sinne bedeutet die Gesichtszüge und der Ausdruck, die eine Person hineinlegt. Peter Bieri fügt hinzu: „Es gehört aber auch vieles dazu, was mit den Gesichtszügen nichts mehr zu tun hat: die soziale Rolle; all das, was wir uns an Fähigkeiten, Einfluss und Macht zuschreiben; das Muster aus Gewohnheiten und Einstellungen, dass wir Charakter nennen; die nach außen hin verkündeten Gedanken und Gefühle.“ Peter Bieri, geboren 1944 in Bern, studierte Philosophie und Klassische Philologie und lehrte als Professor für Philosophie in Bielefeld, Marburg und an der Freien Universität Berlin.

Mit Lügen kan man das Gesicht eines anderen Menschen wahren

An ihrem sozialen Gesicht arbeiten Menschen ihr ganzes Leben lang. Denn es wäre gefährlich, es zu verlieren. Es würde laut Peter Bieri Schutzlosigkeit und Ohnmacht bedeuten. Der Gesichtsverlust wäre deshalb mit der Erfahrung der Demütigung verbunden. Peter Bieri erklärt: „Wir tun nahezu alles, um unser eigenes Gesicht zu wahren. Und manchmal helfen wir auch anderen, das ihre zu wahren. Das geht nicht ohne Lügen. Es sind interessante, subtile Lügen: Es geht nicht darum, Falsches zu behaupten; es geht darum, die Wahrheit zu verschweigen.“

Die Sprache solcher Lügen ist die Sprache der Diplomatie und Schönfärbereien. Sie ist der Ausdruck nichtssagender Kompromisse, des angeblichen Respekts vor politischen Feinden, des angeblichen Fortschritts in festgefahrenen Gesprächen, der angeblichen Leistungen derer, die in Wirklichkeit versagt haben. Peter Bieri weist darauf hin, dass auch die Sprache von Gutachten und Arbeitszeugnissen nicht selten solche Lügen enthält. Er erläutert: „Selbstverständliches wird als besondere Leistung herausgestrichen, die Mängel werden mit Schweigen übergangen.“

In bestimmten Fällen wird die Lüge als Wahrheit betachtet

Lügen, die auf diese Weise der Wahrung des Gesichts dienen, sind laut Peter Bieri ganz erstaunliche Lügen. Denn es sind seiner Meinung nach durch und durch fadenscheinige Lügen. Sowohl die Lügenden als auch die Belogenen wissen, dass nicht die Wahrheit gesagt wird. Und dennoch stürzt dieses Lügengebäude nicht ein. Peter Bieri nennt einen Grund: „Es wird gehandelt, als wäre die Lüge die Wahrheit. Weil es gefährlich sein kann, wenn jemand beschämt dasteht.“ Allerdings wird dabei geben die Würde im Sinne des Willens zur Wahrhaftigkeit verstoßen.

Doch die Dinge können sich noch komplizierter darstellen. Es kann geschehen, dass ein Selbstmord hartnäckig als Unfall bezeichnet wird, obwohl man es besser weiß. Peter Bieri nennt so etwas eine Sprachregelung: eine Entscheidung für bestimmte Worte, auch wenn man weiß, dass sie ein Geschehnis nur verschleiern. Peter Bieri erläutert: „Auch hier geht es darum, dass jemand sein Gesicht wahren kann. Und auch hier geht es um eine stillschweigende Übereinkunft, die Wahrheit zu vertuschen.“

Von Hans Klumbies