Der Nationalismus ist eine typische Ausformung des Populismus

Wo Autorität schwindet, tritt Macht an ihre Stelle. Die aktuelle politische Weltlage zeigt diese Gefahr anschaulich. Die Gefahr kommt aus verschiedenen Richtungen. Die politische Ordnung ist immer weniger demokratisch, besitzt kaum noch Autorität und regiert auf Basis von Macht – häufig genug ist das Ohnmacht, doch das ändert nichts daran. Paul Verhaeghe erklärt: „Die Wähler sehen das, interpretieren es jedoch zu Unrecht als ein Scheitern der Demokratie an sich.“ Das birgt das größte Risiko, das David Van Reybrouck sehr treffend als neue Epidemie beschrieben hat: DES, das demokratische Erschöpfungssyndrom. Der Bürger glaubt nicht mehr an Demokratie, er ist bereit für zwei „Lösungen“, die schlimmer sind als die Krankheit selbst. Paul Verhaeghe lehrt als klinischer Psychologe und Psychoanalytiker an der Universität Gent.

Beim heutigen Nationalismus handelt es sich meist um Regionalismus

Paul Verhaeghe warnt: „Populismus, eine der möglichen Lösungen, gibt sich demokratisch, ist es jedoch nicht; häufig müssen erst viele Menschen sterben, bevor das klar wird.“ Überall in Europa keimt der Nationalismus auf, eine typische Ausformung des Populismus darstellt. In der klassischen Bedeutung der „Blut-und-Boden-Ideologie“ gehört er der Vergangenheit an. Wer sich die Mühe macht, den heutigen Nationalismus zu untersuchen, begreift schnell, dass es um Regionalismus, basierend auf finanzielle Motiven geht.

Wirtschaftlich erfolgreiche Regionen wie zum Beispiel Norditalien, Katalonien oder Flandern wollen sich von weniger prosperierenden Gebieten trennen. Tatsächlich läuft das auf eine kurzsichtige Solidaritätsverweigerung hinaus. Paul Verhaeghe erläutert: „Viele Wähler begreifen nicht, dass sie früher oder später dasselbe Schicksal erwartet wie diese weniger erfolgreichen Regionen, meist sogar schneller als erwartet.“ Es ist auffällig, wie häufig solche regionalistischen Parteien bereits kurz nach ihrem Eintritt in die Regierung sozioökonomische Entscheidungen treffen, die sich für einen großen Teil ihrer Anhängerschaft nachteilig auswirken.

Auch die Technokratie ist eine Gefahr für die Demokratie

Oft vertuschend die neuen Machthaber das, indem sie ein bestehendes Feindbild noch weiter bemühen. Schuld sind immer die anderen. Scheinbar auf der entgegengesetzten Seite der populistischen Lösung steht die zweite Möglichkeit zur Auflösung der Demokratie: Man gibt einer kleinen Gruppe von Experten die Macht – mit anderen Worten einer Technokratie. Die zugrunde liegende Argumentation wendet sich genau gegen die populistische Lösung, die alles Heil im „gesunden Menschenverstand“ sieht.

Der technokratische Traum besagt dagegen, dass Regieren so komplex geworden ist, dass selbst Politiker nicht mehr imstande sind, die Gesamtsituation zu überblicken, geschweige denn, richtige Entscheidungen zu treffen. Daher sei es besser, Entscheidungen auszulagern (Outsourcing) an Experten, die dank ihrer objektiven Kenntnisse solide begründete Vorschläge machen können. Diese Argumentation schmückt sich gern mit Modebegriffen wie Effizienz und Problemmanagement. Schluss mit der Ideologie, her mit den Lösungen, dann sind alle zufrieden. Quelle: „Autorität und Verantwortung“ von Paul Verhaeghe

Von Hans Klumbies