Eltern müssen nicht immer und überall für ihre Kinder da sein

Eltern haben Macht und sorgen als Bezugspersonen für Sicherheit. In der Psychologie geht es häufig um die mehr oder weniger sichere Bindung von Kindern. Diese ist laut Paul Verhaeghe in der Tat von höchster Bedeutung: „Es handelt sich dabei im Wesentlichen um das Verhältnis zwischen Bezugsperson und Baby bis ins Vorschulalter. Wie sicher die Bindung eines Kindes ist, lässt sich paradoxerweise buchstäblich daran messen, wie gut es die Bezugsperson loslassen kann.“ Der Psychoanalytiker fügt hinzu: „Den Erfolg unserer Erziehung können wir daran messen, wie unsere Kinder sich von uns lösen können.“ Die vom Kleinkind gefühlte Sicherheit hängt ganz eng mit der Sicherheit und Vorhersehbarkeit zusammen, die es immer wieder erfahren hat. Paul Verhaeghe lehrt als klinischer Psychologe und Psychoanalytiker an der Universität Gent.

Der Umgang mit der Abwesenheit ist entscheidend für den Erfolg der Entziehung

Das zeigt deutliche Auswirkungen bis ins Erwachsenenalter. Jemand hat Selbstvertrauen, weil es als Kind erfahren hat, dass er einem anderen vertrauen kann. Sicherheut und die dazugehörige Gewissheit und Verlässlichkeit bedeuten allerdings nicht, dass die Bezugsperson immer für ihr Baby da sein muss. Im Gegenteil, ein Kind fühlt sich sicher, sobald es davon überzeugt ist, dass Mama oder Papa auf eine vorhersehbare Art verschwindet und wieder zurückkommt. Eltern, die verzweifelt versuchen, immer und überall für ihr Kind da zu sein, geben vor allem ihre eigene Unsicherheit und Angst weiter.

Den Erfolg der Erziehung kann man also auch daran messen, wie man selbst mit Abwesenheit umgeht. Ein Kleinkind muss lernen, mit der Abwesenheit der Mutter zurechtzukommen, und muss die Gewissheit bekommen, dass sie wiederkommt. Einige Jahre später muss die Mutter lernen, mit der Abwesenheit ihres Teenagers umzugehen. Dann braucht sie die Gewissheit, dass ihr Sohn oder ihre Tochter wieder nach Hause kommt. Wenn der Nachwuchs nicht von zu Hause wegkommt oder richtiggehend aus dem Elternhaus fliehen muss, dann stimmt etwas nicht.

Unberechenbare Eltern verhindern den Erfolg der Erziehung

Beide Reaktionen gehen auf eine von Unsicherheit geprägte Vorgeschichte zurück. Als Ursachen kommen für Paul Verhaeghe verschiedene Ursachen in Frage: „Unberechenbare Eltern, eine allgegenwärtige Mutter, eine traumatischen Kindheit …“ Wenn das erwachsen gewordene Kind zu Hause bleibt, ist es die Außenwelt, die als gefährlich und bedrohlich erfahren wird. Will der junge Erwachsene so weit wie möglich von zu Hause weg, dann liegt das an der Bedrohung aus der Innenwelt.

Die erste Gruppe ist eindeutig abhängig und löst das Problem ihrer Unsicherheit, indem sie sich anpasst. Die zweite Gruppe wirkt autonom und selbstständig, bis sich herausstellt, dass sie sich beinahe zwanghaft gegen ihre Umgebung auflehnen muss. Die erste Gruppe bejaht alles stillschweigend, die zweite verwehrt sich mit einem lautstarken Nein, und beide schreiben somit dem anderen eine Allmacht zu, die entweder Unterwerfung oder Widerstand fordert. Quelle: „Autorität und Verantwortung“ von Paul Verhaeghe

Von Hans Klumbies