Der Narzissmus ist die Leitneurose der Gegenwart

Narzisst ist das Schimpfwort der Stunde. Narzissmus gilt als Leitneurose der emanzipierten Gesellschaft. Doch nicht jeder, der stört, ist auch gestört. Der Schweizer Moderator, Medienunternehmer und ehemalige Sat.1-Geschäftsführer Roger Schawinski schreibt in seinem neuen Buch „Ich bin der Allergrößte“, dass sich überall in den modernen Gesellschaften der Narzissmus ausbreitet. Vor allem geht es dabei um Männer, denen ihr Hochmut zum Verhängnis wurde. Wo man hinschaut, selbstverliebte Alphatiere, männliche und weibliche Egozentriker, Junge und Alte, die sich vor allem mit sich selbst beschäftigen. Im Fernsehen, im Internet, im Alltag. In den Reality- und Castingshows, in denen sich Möchtegernmodels und Traumtänzer in Szene setzen. In den sozialen Netzwerken, wo auf Instagram täglich 80 Millionen Bilder geteilt werden, unzählige davon mit dem wichtigsten Motiv eines digitalen Lebens: dem Selfie.

Eine Gesellschaft aus Narzissten scheint dem Untergang geweiht

In den Wartezimmern der Schönheitschirurgen, die 2015 fast zehn Prozent mehr Kunden hatten als im Jahr zuvor. In den Fitnessstudios, wo inzwischen fast jeder sechste Deutsche seinen Körper stählt. Wer arrogant auftritt oder eitel, snobistisch oder exhibitionistisch, selbstverliebt, egozentrisch, unempathisch, wer leicht kränkbar ist und Kritiker herunterputzt, kurz: Wer ein ziemlicher Unsympath ist, gilt heute als Narzisst. Keine andere psychologische Diagnose ist tiefer in die Alltagssprache eingesickert.

Es ist die Modediagnose einer Gesellschaft, in der – nach „Du Nazi“ – kaum eine größere Beleidigung vorstellbar scheint als „Du Narzisst“. Schlimmer nur: „Du hast eine narzisstische Störung.“ Es ist ein Schimpfwort für vermeintliche Soziopaten, die eine Gesellschaft zu prägen scheinen, die weder Empathie kennt noch Solidarität. Eine Gesellschaft, die sich womöglich selbst für krank hält. Mal ist dann der Neoliberalismus schuld oder dieses verdammte Internet. Und nur eines scheint gewiss: Eine Gesellschaft aus Narzissten scheint dem Untergang geweiht.

Der Begriff „Narziss“ geht auf einen griechischen Mythos zurück

Zeitdiagnostiker, Soziologen und Psychologen reden von einer „Narzissmus-Epidemie“, einer „Generation Ich“, einer „Ich-Inflation“ – und davon, dass sich die Verbreitung der narzisstischen Störung kaum noch beherrschen lasse, „ähnlich der Pest im Mittelalter“. Der Schweizer Psychiater Gerhard Dammann sieht im Narzissmus die „Leitneurose unserer Zeit“. Der Begriff „Narziss“ geht auf den griechischen Mythos des Jünglings Narziss zurück. Frauen und Männer begehrten den goldgelockten Narziss, doch er verschmäht alle.

Schon bald ist sein Stolz so legendär wie seine Schönheit. Als er sich über einen Teich beugt, verleibt er sich in sein Spiegelbild. Er verharrt Tag und Nacht am Ufer, immer verzweifelter, weil das wundervolle Wesen ihm nicht antwortet. Als er versucht, es zu küssen, stürzt er ins Wasser und ertrinkt. In der Antike hatte Narziss noch ein recht gutes Image: Die alten Römer trugen Schmuckstücke mit seinem Bild, um ihr Liebesbedürfnis zum Ausdruck zu bringen. Das änderte sich mit dem Christentum, das die Nächstenliebe propagierte und die Selbstliebe des Narziss kritisch beäugte. Quelle: Der Spiegel

Von Hans Klumbies