Führungspersonen müssen heutzutage fast ideale Menschen sein

Herausragende Führungspersönlichkeiten hatten schon immer ihre moralischen Schattenseiten. Eine Abstimmung, die von der BBC initiiert worden war, hat zum Beispiel Winston Churchill, der die Demokratie und Zivilisation während des Zweiten Weltkriegs in Europa gerettet hat, zum bedeutendsten Briten aller Zeiten erkoren. Obwohl allgemein bekannt ist, dass er ein starker Whiskytrinker war, sehr spät aufstand und seinen Urlaub gerne auf der Yacht des griechischen Milliardärs Aristoteles Onassis verbrachte. Nicht nur große Staatsmänner, sondern auch bedeutende Unternehmer und Manager, die große Leistungen vollbracht und den Wohlstand der Gesellschaft wesentlich gemehrt haben, führten nicht unbedingt ein vorbildliches Privatleben. Und wenn man an Künstler denkt, erweist sich der heutzutage praktizierte rigorose Moralismus endgültig als unbrauchbar und wird für diese Kreativen auch nicht angewendet.

Der Terror der Tugend greift immer mehr um sich

Gerade auch die Größten unter den Künstlern waren nicht selten Alkoholiker, nahmen Drogen oder waren sogar Gauner wie der Maler Caravaccio. Heutzutage dagegen wird vor allem von Führungspersonen verlangt, beinahe ideale Menschen zu sein. Sie sollten herausragende berufliche Erfolge und Fähigkeiten mit einem blütenweißen und vorbildlichen Privatleben vereinen. Zwischen Privat und Beruf wird nicht mehr unterschieden. Besonders ausgeprägte Führungsqualitäten können heute in keiner Weise ein etwas weniger überzeugendes Verhalten im Bereich der Familie ausgleichen.

Wenn sich ein Manager oder Politiker im privaten Bereich einen Fehltritt erlaubt, wird über ihm sofort die Keule des allseits herrschenden absoluten Moralismus geschwungen. Es hilft ihm dann auch nicht mehr, wenn er auf seine Verdienste im Beruf hinweist. In früheren Zeiten scheint die Einschätzung von Führungspersonal großzügiger gewesen zu sein. Wenn jemand zum Beispiel viel Alkohol trank, wurde dies toleriert, solange er im Beruf gute Leistungen erbrachte. Heute herrscht eher ein Terror der Tugend, der nicht nur Karrieren zerstört, sondern auch ganze Existenzen vernichtet hat.

Eine Gesellschaft braucht Individualisten und Normbrecher

Zeitungen, Radio und das Fernsehen sind mitschuldig am Tugendterror. Journalisten schnüffeln im Privatleben von bekannten Persönlichkeiten herum, um moralische Mängel aufzudecken und übertrieben darzustellen. Zuweilen gilt es als Auszeichnung, eine Berühmtheit zu Fall gebracht zu haben. Der Bereich dessen, was heutzutage als moralisch verfehlt gilt, ist riesig. Er reicht von Liebschaften und Abweichungen von der gerade vorherrschenden Sexualnorm über Drogen und Alkohol bis hin zu ungewöhnlichen Lebensentwürfen.

Manchmal genügt sogar eine bloße Behauptung oder die Verbreitung eines Gerüchts, um eine Karriere zu ruinieren. Dabei kommt es zu regelmäßigen Vorverurteilungen. Es nützt dann auch nichts mehr, wenn das Gericht den Angeklagten für nicht schuldig erklärt. Denn Anschuldigungen verjähren nie. Die Konsequenzen, die sich aus diesem zwanghaften Moralismus für die Gesellschaft ergeben, sind äußerst negativ. Denn jede Gemeinschaft, die sich fruchtbar weiterentwickeln will, braucht Menschen, die Normen brechen und Personen, die ungewöhnliche Positionen einnehmen und vertreten. Fehlen diese Individualisten, versteinert eine Gesellschaft. Quelle: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Von Hans Klumbies