Die gewollte Selbstentleibung ist beim Exzess ganz wesentlich

Beim Exzess geht es für Mirjam Schaub darum, das Maßlose zu wollen, mit der Übertreibung und dem Überschuss, aber auch mit dem Lächerlichen und Erbärmlichen darin einverstanden zu sein: „Für mich hat Exzess mit dem Furor der Wiederholung zu tun. Vielleicht ist es eine Art Vereinigungsfuror: Man versucht, sich mit etwas zu verbinden, das größer ist als man selbst.“ Deshalb kann sich Mirjam Schaub übrigens auch nicht vorstellen, dass jemand alleine exzessiv Spaß hat. Solch eine Ausgelassenheit ist nur in der Gruppe möglich, wo viele sich gegenseitig über die Schwelle helfen. Beim Exzess ist deutlich mehr Risiko und Wagnis dahinter als beispielsweise beim über die Stränge schlagen. Mirjam Schaub ist ausgebildete Journalistin, habilitierte Philosophin und seit 2012 Professorin für Ästhetik und Kulturphilosophie an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg.

Der Exzess richtet sich gegen den Horror des Gewöhnlichen

Der Exzess sollte für Mirjam Schaub einen Zug ins Zerstörerische haben. Exzess setzt ihrer Meinung nach den Willen zur Wiederholung samt ihrer Übertreibung voraus, einer Wiederholung, die trotzdem glaubt, kein Zwang zu sein. Dieser freiwillige, voluntaristische Moment, die gewollte Selbstentleibung ist aus ihrer Sicht wesentlich. Mirjam Schaub fügt hinzu: „Es geht um Entgrenzung, aber in einer Weise, die man noch mitkriegt: Bewusstsein, Aufmerksamkeit, Wachheit sind dazu unverzichtbar.“

Mirjam Schaub glaubt auch, dass es einen Horror des Gewöhnlichen gibt. Sie meint damit einen Horror davor, dass alle Tage eine ähnliche Struktur haben. Der Exzess richtet sich gegen diese Banalität und verspricht: „Jetzt wird alles anders.“ Die Philosophin gibt allerdings zu, dass die meisten Menschen, bei Licht besehen, selbst ziemlich gewöhnlich und mit dem Ungewöhnlichen schnell überfordert sind. Deswegen ist immer ganz praktisch, in der Gruppe oder im Rudel exzessiv zu sein. Man kann den Exzess auch als metaphysischen Erpressungsversuch auffassen.

Beim Exzess wird auch der Umfang der eigenen Freiheit getestet

Im Exzess versucht man herauszufinden, ob da noch nicht jemand eingreift und schreit: „Halt, stopp, bis hierhin und nicht weiter!“ Mirjam Schaub ergänzt: „Man provoziert ganz bewusst etwas, was größer ist als man selbst – nennen wir es ruhig Metaphysik. Doch gerade weil die Antwort ausbleibt, weil es immer weiter und weiter geht, ist man doppelt wütend und führt die Selbstzerstörung fort.“ Wenn Gott aber tot ist, wendet sich die Möglichkeit der Grenzüberschreitung nach innen. Der Liberalismus, der alles erlaubt, führt dazu, dass der Exzess keinen Widerstand mehr erfährt und zum reinen Selbstläufer mutiert.

Der Exzess zielt für Mirjam Schaub nicht einfach auf Grenzüberschreitungen im Sozialen, sondern es geht auch um das Weitertreiben des Eigenen: „Der Exzess nimmt doch den ganzen Menschen mit und trägt ihn an einen Punkt, an dem er nicht sicher ist, ob er sich dort wieder zusammensammeln kann. Einverleibungs- und Entleibungswünsche greifen ineinander.“ So ist der Exzess auch ein Test, wie weit die eigene Freiheit reicht. Laut Mirjam Schaub kann der Mensch jede Tätigkeit in den Exzess treiben. Das gilt selbst fürs Nachdenken. Quelle: Philosophie Magazin

Von Hans Klumbies