Michel de Montaigne verehrt die wahre Freundschaft

Die Natur hat den Menschen für das Zusammenleben geschaffen. Aber um eine vollständige und vollkommene Freundschaft aufzubauen, bedarf es laut Michel de Montaigne so vieler günstiger Umstände, dass dies im Zeitraum von drei Jahrhunderten nur einmal vorkommt. Er zitiert Aristoteles, der gesagt hat, dass deshalb den guten Gesetzgebern die Freundschaft mehr am Herzen gelegen sei als die Gerechtigkeit. Michel de Montaigne schreibt: „Nun ist die Freundschaft die eigentliche Erfüllung des Ideals der Gesellschaft: alle anderen Beweggründe für menschliche Bindungen, sexuelle Anziehung, Vorteil, Notwendigkeit für die Gruppe oder für den einzelnen, sind weniger schön und uneigennützig.“

Der Unterschied zwischen Liebe und Freundschaft

Für Michel de Montaigne lebt die wahre Freundschaft vom ungehinderten Austausch der Gedanken zwischen den Freunden. Es herrscht zwischen ihnen eine geistige Gleichgestimmtheit, aus der die echte, vollkommene Freundschaft hervorwächst. Die Freiwilligkeit ist bei jeder Freundschaft eine der Grundvoraussetzungen. Michel de Montaigne schreibt: „Unsere freie Entscheidung kann sich aber kein Ziel setzen, das ihr so wohl ansteht als Zuneigung und Freundschaft.“ Selbst die Liebe zu den Frauen kann man seiner Meinung nach nicht mit Wert einer wahren Freundschaft vergleichen.

Im Liebesfeuer glaubt Michel de Montaigne eine Art Fieberglut zu erkennen, die auf und abschwillt, ein mutwilliges und unbeständiges Feuer, das außerdem nur Teile des Menschen ergreift. Ganz anders sind dagegen die positiven Eigenschaften der Freundschaft. Michel de Montaigne erklärt: „In der Freundschaft dagegen herrscht eine allgemeine Wärme, die den ganzen Menschen erfüllt und die außerdem immer gleich wohlig bleibt; eine dauernde stille, ganz süße und ganz feine Wärme, die nicht sengt und nicht verletzt.“

Bei der Freudschaft sind Genuss und Sehnsucht identisch

Bei der Liebe erkennt Michel de Montaigne das Wesentliche in einem unstillbaren Sehnen nach einem Ziel, das immer entweicht, sobald die Liebe in das Gebiet der Freundschaft hinübergreift. Das heißt für ihn, wenn die Herzen sich finden, verliert die Liebe an Feuer und Kraft. Denn das Ziel, das jetzt erreicht ist, ist ein körperliches und damit zieht die Gefahr der Übersättigung herauf. „Bei der Freundschaft jedoch sind Sehnsucht und Genuss identisch; sie steigt, sie gedeiht, sie wächst durch ihren Genuss gerade erst recht, denn sie bleibt etwas Geistiges, und die Seele veredelt sich in ihr“, erklärt Michel de Montaigne.

Im Gegensatz zur Ehe spielen bei der Freundschaft laut Michel de Montaigne wesensfremde Gesichtspunkte geschäftlicher oder familiärer Art keine Rolle. Das heilige Band der Freundschaft soll sich aus einer vortrefflichen Geistesgemeinschaft entwickeln. Nur so kann eine dauerhafte und anspruchsvolle Freundschaftsverbindung entstehen. Michel de Montaigne definiert die Freundschaft wie folgt: „Aber in einer Freundschaft, wie ich sie meine, geht eine so vollständige Verschmelzung der zwei Seelen miteinander vor sich, dass an dem Punkte, wo sie sich treffen, keine Naht mehr zu entdecken ist.“

Von Hans Klumbies