Das Gesetz von Angebot und Nachfrage dominiert das Leben

Viele Menschen bringen oft Korruption mit ungesetzlichen Zahlungen an Behördenvertreter in Verbindung. Doch Korruption hat für Michel J. Sandel auch eine breitere Bedeutung. Er erklärt: „Wir korrumpieren ein Gut, eine Handlung oder eine gesellschaftliche Praxis immer dann, wenn wir sie unangemessen behandeln, also gemäß einer niedrigeren Norm, als ihr zusteht.“ Michael J. Sandel nennt ein extremes Beispiel: Kinder zu bekommen, um sie zu verkaufen, ist demnach als Korrumpierung der Elternschaft anzusehen, weil hier Kinder als Gebrauchsgegenstände behandelt werden und nicht als Personen. Die politische Korruption betrachtet er im gleichen Licht: Wenn ein Richter zum Beispiel Schmiergeld annimmt und ein korruptes Urteil fällt, handelt er, als sei seine gesetzliche Autorität ein Werkzeug für persönlichen Profit. Michel J. Sandel ist politischer Philosoph. Er studierte in Oxford und lehrt seit 1980 in Harvard. Seine Vorlesungen über Gerechtigkeit machten ihn weltweit zu einem der bekanntesten Moralphilosophen der Gegenwart.

Immer mehr Lebensbereiche werden von Mäkten und marktkonformen Denken durchdrungen

Dieser weiter gefasste Begriff von Korruption steht hinter dem Vorwurf, Bargeld für Sterilisation sei eine Form der Bestechung. Doch dieser Vergleich hinkt. Ein Richter, der im Tausch für ein korruptes Urteil Schmiergeld annimmt, verkauft etwas, dessen Verkauf ihm nicht zusteht – das Urteil ist ja nicht sein Eigentum. Eine Frau dagegen, die einwilligt, sich gegen Bezahlung sterilisieren zu lassen, verkauft etwas, was ihr gehört, nämlich ihre Fähigkeit zur Fortpflanzung.

Das Preissystem verteilt Güter gemäß den Vorlieben der Leute. Es beurteilt nicht, ob diese Neigungen wertvoll oder bewundernswert oder den Umständen angemessen sind. Michael J. Sandel vertritt die These, dass während der letzten Jahrzehnte Märkte und marktkonformes Denken auf Lebensbereiche übergegriffen haben, die üblicherweise von marktfremden Normen beherrscht waren. Immer häufiger versehen die Menschen heutzutage auch Güter mit einem Preis, die eigentlich nichts mit Ökonomie zu tun haben.

Menschen streben stets nach der Maximierung ihres Wohlergehens

Doch auch die Ökonomen haben sich den veränderten Verhältnissen angepasst. In jüngster Zeit haben sie sich eine ehrgeizige Aufgabe gestellt. Michel J. Sandel erläutert: „Was die Ökonomie biete, sagen sie, sei nicht bloß eine Sammlung von Einsichten über Produktion und Konsum materieller Güter, sondern auch ein Wissenschaft des menschlichen Verhaltens.“ Das Leben der Menschen soll durch die Annahme erklärt werden, dass sie ihre Entscheidungen treffen, indem sie Kosten und Nutzen der verschiedenen Möglichkeiten gegeneinander abwägen und sich dann für eine Handlungsoption entscheiden, die ihrer Meinung nach den größten Nutzen oder Gewinn verspricht.

Falls diese Vorstellung zutreffen würde, hätte alles seinen Preis. Ob sich die Menschen dessen bewusst sind oder nicht, das Gesetz von Angebot und Nachfrage regelt alle Bereiche des menschlichen Lebens. Laut Gary Becker, Ökonom der University of Chicago, streben die Menschen stets danach, ihr Wohlergehen zu maximieren – und dass beinahe ausnahmslos bei allen ihren Aktivitäten. Dieser ökonomische Ansatz gilt seiner Meinung nach uneingeschränkt für alle denkbaren Güter.

Von Hans Klumbies