Max Frisch macht sich Gedanken über die Lyrik

Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch schreibt 1947 in seinem Tagebuch folgendes über die Lyriker: „Die Poeten, wenn sie Poesie machen, die hinter ihrem und unserem Bewusstsein zurückbleibt, sperrt man nur darum nicht ein, weil der Schaden, den sie anrichten, nur sie selbst trifft.“ Aber kein bewusster Zeitgenosse nimmt sie dann mehr ernst. Für Max Frisch gibt es im Gegensatz zu der modernen Lyrik in England und Frankreich, offensichtlich wenig deutsche Gedichte, die nicht schon in ihrer Metaphorik antiquiert sind. Sie klingen seiner Meinung zwar oft großartig, haben aber dennoch meistens keine Sprache. Sie durchdringen nicht sprachlich die Welt, die die Menschen umstellt.

Das Neue der Welt kommt in der deutschen Lyrik nicht vor

Max Frisch vertritt die Meinung, dass es nicht die Mühle am Bach, die Sense des Bauern oder der Löwe sind, aus denen die Umwelt der meisten Menschen besteht. Er kritisiert die deutschen Dichter: „Das banale der modernen Welt (jeder Welt) wird nicht durchstoßen, nur vermieden und ängstlich umgangen. Ihre Poesie liegt immer vor dem Banalen, nicht hinter dem Banalen.“ Es gibt bei ihnen keine Überwindung, nur Ausflucht in eine Welt, die schon aus Reimen besteht. Deshalb bleibt alles Neue, aus dem die Welt heute besteht, einfach außerhalb der deutschen Lyrik.

Wer das Radio einschaltet, erkennt laut Max Frisch schon nach einem halben Satz, wenn es sich um Poesie handelt. Er erklärt: „Denn so spricht kein Mensch, wenn er etwas Ernstes mitzuteilen hat.“ Das einzige Gefühl, das sein Singsang in Max Frisch erzeugt, ist, dass er sich etwas vormacht, Erfurcht zum Beispiel. Er gibt außerdem nicht zu, dass seine gereimten Zeilen ihn selbst nicht mehr erreichen. Der Singsang soll das Bewusstsein der Hörer einlullen.

Das wahre Gedicht durchdringt sprachlich die Welt

Das alles ist bei einem wirklichen Gedicht nicht nötig. Es vermag der Welt standzuhalten, in die es gesprochen wird, weil es eben diese Welt, ihr nicht ausweichend, sprachlich durchdringt. Max Frisch zitiert eines der wenigen Gedichte, die diesem Anspruch standhalten. Es stammt von Berthold Brecht:

„Die Vaterstadt, wie find ich sie doch?
Folgend den Bomberschwärmen
komm ich nach Haus.
Wo denn liegt sie? Wo die ungeheueren
Gebirge von Rauch stehen.
Das in den Feuern dort
ist sie.

Die Vaterstadt, wie empfängt sie mich wohl?
Vor mir kommen die Bomber. Tödliche Schwärme
melden Euch meine Rückkehr. Feuersbrünste
gehen dem Sohn voraus.“

Max Frisch vertraut seinem Tagebuch an, dass er bei diesem Gedicht von Berthold Brecht nicht rauschhaft oder müde sein muss, dass es ihn erreicht. Es bleibt ein Gedicht, auch wenn man es in einer kargen Küche spricht. Max Frisch erklärt: „Es geht mich etwas an. Und vor allem: Ich muss nichts vergessen, um es ernstnehmen zu können. Es setzt keine Stimmung voraus; und hat auch keine andere Stimmung zu fürchten.“

Von Hans Klumbies