Der Zorn hat eine gute und eine schlechte Seite

Zorn hat einen zwiespältigen Ruf. Einerseits gilt er als wertvoller Teil des moralischen Lebens, als unerlässlich für die ethischen wie die politischen Beziehungen der Menschen. Der entschiedenen Auffassung mancher Philosophen ist der Zorn eng mit der Selbstachtung und dem Aufbegehren gegen Ungerechtigkeit verknüpft. Martha Nussbaum fügt hinzu: „Andererseits durchzieht die Vorstellung vom Zorn als einer zentralen Bedrohung des vernünftigen Miteinanders die philosophische Tradition des Westens – unter anderem das politische Denken zu Zeiten des Aischylos, die Texte von Sokrates und Platon, der griechischen und römischen Stoiker, der im 18. Jahrhundert wirkenden Philosophen Joseph Butler und Adam Smith und diejenigen zahlreicher weiterer einschlägiger Denker.“ Martha Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago. Sie ist eine der einflussreichsten Philosophinnen der Gegenwart.

Die Vorstellung der Vergeltung gehört zum Zorn

Heutzutage sind aus der Vorstellung vom Zorn als Krankheit zahlreiche therapeutische Arbeiten hervorgegangen, nach denen es der offenbar unerbittliche Zugriff des Zorns ist, der ein Eingreifen – oder Ratschläge zur Selbsthilfe – erforderlich macht. Da der Zorn im moralischen Leben als ein solches Problem empfunden wird, gewinnt das Projekt der Vergebung eine zentrale Bedeutung, und im Regelfall wird Vergebung in Begriffen einer Mäßigung des Zorns und der von ihm geprägten Einstellungen aufgefasst.

Zutreffen könnten laut Martha Nussbaum beide Auffassungen: Es könnte sich beim Zorn um ein wertvolles, zugleich aber gefährliches Werkzeug im moralischen Leben handeln, das die Gefahr von Auswüchsen birgt und fehleranfällig ist, aber dennoch eine Grundlage für nicht zu ersetzende Beiträge bildet. In Übereinstimmung mit den meisten traditionellen philosophischen Definitionen des Zorns argumentiert Martha Nussbaum, dass die Vorstellung der Vergeltung oder des Zurückzahlens – in welcher subtilen Form auch immer – zum Zorn und seinem Begriff gehört.

Aus Zorn kann konstruktives Denken entstehen

Zudem argumentiert Martha Nussbaum, dass die Vergeltungsvorstellung normativ ein Problem darstellt – und folglich auch der Zorn. Es gibt ihrer Meinung nach zwei Möglichkeiten: Entweder konzentriert sich der Zorn auf eine erhebliche Rechtsverletzung wie etwa einen Mord oder eine Vergewaltigung, oder er bezieht sich lediglich auf die Bedeutung, die das Vergehen auf den relativen Status des Opfers hat – wie bei der von Aristoteles sogenannten „Herabsetzung“. Im ersten Fall ergibt der Gedanke der Vergeltung keinen Sinn, weil die Verletzung des Opfers nicht aus der Welt geschafft oder in einem konstruktiven Sinne bewältigt wird, indem man dem Täter Schmerz zufügt.

Im zweiten Fall ist sie nur allzu sinnvoll, da Vergeltung zu einer Umkehrung der Positionen führen kann. Allerdings sind dabei die beteiligten Wertvorstellungen verzerrt: Der relative Status sollte kein solches Gewicht haben. Im Zuge der Verteidigung dieser Argumente erkennt Martha Nussbaum schließlich einen Grenzfall des Zorns, der von diesen Mängeln frei ist, und schildert und befürwortet einen Übergang vom Zorn zum konstruktiven Denken, das auf das künftige Wohl gerichtet ist. Quelle: „Zorn und Vergebung“ von Martha Nussbaum

Von Hans Klumbies