Im menschlichen Gehirn wachsen neue Nervenzellen nach

Über lange Zeit waren die Neurowissenschaftler der festen Überzeugung, dass die Nervenzellen eines Menschen bereits bei der Geburt voll ausgebildet sind. Sie vertraten die These, dass danach keine Nervenzellen mehr gebildet, aber jeden Tag welche absterben würden. Manfred Spitzer schreibt allerdings in seinem Buch „Digitale Demenz“, dass es keinen wissenschaftlichen Beweis dafür gibt, die die im Volksmund weit verbreitete Auffassung stützt, täglich stürben etwa 10.000 Nervenzellen ab. Auch wenn diese Vermutung zutrifft, hat ein Mensch im Alter von 70 Jahren nur 1,3 Prozent seiner Nervenzellen verloren. Eine beruhigende Berechnung. Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer leitet die Psychiatrische Universitätsklinik in Ulm und das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen. Zu seinen bekanntesten Büchern zählen „Lernen“ und „Vorsicht Bildschirm!“.

Gehirnwachstum und das Nachwachsen von Neuronen ist nicht das Gleiche

Inzwischen haben die Gehirnforscher herausgefunden, dass in der Großhirnrinde, also dem, was man sieht, wenn man das Gehirn von außen betrachtet, beim erwachsenen Menschen mit an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit, keine Nervenzellen nachwachsen. Manfred Spitzer fügt hinzu: „Im Hippocampus hingegen sterben Nervenzellen sehr leicht ab, andererseits wachsen genau hier auch Nervenzellen nach.“ Gehirnwachstum kann allerdings an den unterschiedlichsten Orten im Gehirn stattfinden.

Manfred Spitzer erklärt, warum dies so ist: „Weil Gehirnwachstum und das Nachwachsen von Neuronen nicht das Gleiche sind. Wenn Bereiche der Gehirnrinde durch entsprechendes Training wachsen, dann werden keine zusätzlichen Neuronen gebildet. Die vorhandenen Neuronen werden vielmehr größer, denn ihre Verbindungsstellen werden dicker, und es gibt mehr baumartige Fortsätze, deren Verzweigung ebenfalls zunimmt.“ Die bereits vorhandenen Strukturen haben sich also nur verändert.

Neu gebildete Nervenzellen sind besonders lernfähig

Im Hippocampus dagegen arbeiten die Nervenzellen laut Manfred Spitzer permanent unter Volllast und sterben deswegen auch am leichtesten ab, wenn noch eine zusätzliche Belastung wie beispielsweise Stress auftaucht. Allerdings werden diese durch neu heranwachsende Nervenzellen ersetzt. Manfred Spitzer ergänzt: „Vor kurzem konnte nachgewiesen werden, dass diese neu gebildeten Nervenzellen besonders lernfähig sind.“ Wobei es alles andere als trivial ist, dass diese neu gebildeten Nervenzellen auch funktionieren, da sie zur Ausübung ihrer Funktion in vorhandene Netzwerke eingebaut werden müssen.

Wie weitere Studien über das Gehirn zeigen konnten, ist dieser Einbau in die vorhandenen neuronalen Netze sogar die Voraussetzung dafür, dass die neu gebildeten Neuronen überleben. Manfred Spitzer erläutert: „Werden sie nicht eingebaut, dann sterben sie nach wenigen Wochen wieder ab.“ Er weiß auch, wie dieser Einbau geschieht. Die Vernetzung neu gebildeter Nervenzellen erfolgt genau durch diejenige Tätigkeit, für die sie ohnehin geschaffen sind: durch Lernen. Entscheidend ist dabei gemäß Manfred Spitzer, dass dabei nicht einfach nur irgendetwas Einfaches gelernt wird, sondern dass die neu gebildeten Nervenzellen mit schwierigen Aufgaben richtig gefordert werden.

Von Hans Klumbies