Menschen sind biologisch weder gut noch böse

Die evolutionäre Sicht macht deutlich, dass es sich bei Empathie nicht um eine kulturell gelernte Fähigkeit handelt, sondern m eine tief in der Biologie des Menschen verwurzelte Funktion. Manfred Spitzer ergänzt: „Wie fast alles, was die Menschen ausmacht oder was sie tun, ist auch unsere Biologie kulturell stark beeinflusst, überformt oder geprägt. Dies darf jedoch nicht den Blick dafür verstellen, dass die grundlegenden Funktionen selbst nicht Teil unserer Kultur, sondern unserer Biologie sind.“ Diese Feststellung ist an dieser Stelle deswegen so wichtig, weil das „Wesen“ des Menschen häufig als grundsätzlich böse eingestuft wird. Der englische Philosoph Thomas Hobbes prägte den Satz: „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.“ Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer leitet die Psychiatrische Universitätsklinik in Ulm und das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen.

Das Mitgefühl setzt sich aus verschieden Schichten zusammen

Dieser Satz ist die Formel für die Annahme, dass eine biologisch fest verankerte Tendenz zu Egoismus, Narzissmus und Aggressivität das menschliche Handeln ganz wesentlich bestimmen würde. Daraus wurde und wird nicht selten abgeleitet, dass nur durch drastische „kulturelle“ Maßnahmen – je nach Ideologie: Erziehung, Dressur, Unterweisung, Modelllernen, Einsicht – die „böse Natur“ des Menschen gezähmt werden könne und müsse und nur so eine menschliche Gemeinschaft überhaupt möglich sei.

Diese Sicht der Dinge ist für Manfred Spitzer zu einfach. Denn Menschen sind biologisch weder gut noch böse, sie tragen vielmehr Anlagen für beides in sich. Wie die Entwicklung dieser Anlagen im Laufe eines individuellen Lebens erfolgt, ist offen und wird stark durch den jeweiligen kulturellen Kontext beeinflusst. Kein Mensch erzieht sich selbst. Und so wird verständlich, warum die Entwicklung von Mitgefühl beim Kind stark von der Kultur abhängt, in der es aufwächst. Beim heranwachsenden Kind lässt sich gut beobachten, wie sich Mitgefühl aus verschiedenen Schichten zusammensetzt, die keineswegs alle zugleich auftreten.

Das Mitgefühl in Deutschland nimmt ab

Vielmehr unterliegen schon Babys der Ansteckung – sie schreien zum Beispiel wenn ein anderes Baby schreit. Zwischen 14 und 18 Monaten beginnen Kleinkinder mit zielgerichtetem Helfen, und mit drei Jahren spenden sie schon Trost und handeln reziprok, das heißt, sie behandeln andere abhängig davon, wie sie von ihnen behandelt wurden. Das Helfen, Spenden von Trost und Vermitteln bei Konflikten verstärkt sich zwischen fünf und sechs Jahren noch deutlich. Im weiteren Verlauf lernen Kinder immer differenzierter, dem jeweiligen Kontext entsprechende soziale Verhaltensweisen – vermitteln durch das gelebte soziale Miteinander gemäß den Regeln des kulturellen Kontexts.

Betont die in einer Gesellschaft gelebte Kultur Selbstbezogenheit, Egoismus und Materialismus, so wird sich entsprechendes Verhalten bei den heranwachsenden jungen Menschen eher ausbilden. Entsprechend werden die Chancen für prosoziales Verhalten geringer und das Risiko von Einsamkeit größer. Mittlerweile ist durch harte Daten belegt: Das Mitgefühl in Deutschland nimmt ab. Ebenso rückläufig ist die Fähigkeit zur Einnahme der Perspektive anderer. Ein parallel dazu verlaufender Trend zeigt folgendes: Bei jungen Menschen ist ein zunehmende materielle Einstellung zu verzeichnen. Quelle: „Einsamkeit“ von Manfred Spitzer

Von Hans Klumbies