Der Nationalstaat verliert immer mehr an Macht

In der Gegenwart lassen sich die Begriffe Macht und Staat nur noch schwer ohne Brüche zusammendenken. Es wird von fast niemandem mehr bezweifelt, dass der Staat an die Grenzen seiner Möglichkeiten gekommen ist. Aber wo genau sich dieser Punkt befindet, ist laut Konrad Paul Liessmann mehr denn je fraglich geworden. Denn vom Staat haben die Bürger offenbar immer zu viel oder zu wenig. Wenn der Staat praktisch in eine Vaterrolle schlüpft, spricht man von Paternalismus. Konrad Paul Liessmann definiert den paternalistischen Staat wie folgt: „Der Staat, das ist der ausufernde, alle Lebensbereiche umfassende, für- und vorsorgende Sozial- und Wohlfahrtsstaat, der aus freien Bürgern unmündige, im Anspruchsdenken verhaftete, letztlich verwahrloste Empfänger von Transferleistungen macht.“ Konrad Paul Liessmann ist Professor für Philosophie der  Universität Wien. Zu seinen bekanntesten Büchern zählen „Die Theorie der Unbildung“ und „Das Universum der Dinge.“

Der Staat wird zum Dienstleistungsunternehmen

Konrad Paul Liessmann vertritt die These, dass es notwendig ist, den paternalistischen Staat in seiner Wirksamkeit zu beschneiden und zurückzudrängen. Von diesem Staat haben die Bürger offensichtlich zu viel. Auf der anderen Seite gibt es beispielsweise immer noch zu wenig Kinderbetreuungsangebote, zu wenig Lehrer oder zu wenig Hilfestellung in Fragen der Migration. Von diesem Staat, der sich sorgend um alle Menschen kümmert und weiß, was ihnen gut tut, gibt es scheinbar immer noch zu wenig.

Heute wird aber auch über den sogenannten „schlanken Staat“ diskutiert, der überflüssige Aufgaben abgibt, auslagert oder privatisiert, sich aus vielen Bereichen zurückzieht und sich in ein Dienstleistungsunternehmen verwandelt, das auf wenige Kernkompetenzen reduziert ist. Neben der Idee des schlanken Staates tragen aber auch die Globalisierung und der Abbau des traditionellen Machtgefüges im Rahmen der Europäischen Union dazu bei, das geläufige Konzept des territorialen Nationalstaates als die damit verbundene Vorstellung der repräsentativen Demokratie zu untergraben.

Der Staat verschwindet in seiner vertrauten Gestalt

Die moderne Demokratie gründet sich für Konrad Paul Liessmann auf zwei Voraussetzungen: dem Territorialstaat und der Nation, also dem Staatsvolk, gedacht als Einheit freier Bürger. Beides könnte seiner Meinung nach allerdings verschwinden. Nicht nur die politische Internationalisierung wie im Fall der Europäischen Union bringt das Staatskonzept des 19. Jahrhunderts ins Wanken. Auch der nahezu staatenlose Charakter des mobilen Finanzkapitals und ein zunehmender Migrationsdruck sind die ersten Anzeichen eines allmählichen Verschwindens des Staates in seiner vertrauten Gestalt als einer Gemeinschaft in Grenzen.

Von Macht war im Zusammenhang mit dem Staat in der jüngsten Vergangenheit kaum noch die Rede. Konrad Paul Liessmann schreibt: „Es ist wohl kein Zufall, wenn wir bei Staat in erster Linie nicht mehr an ein politisches Subjekt denken, sondern an eine Organisation, die im wesentlichen die Aufgabe hat, die Defizite einer kaum noch zu kontrollierenden gesellschaftlichen und ökonomischen Dynamik auszugleichen und abzufedern.“ Auch in der Finanz- und Wirtschaftskrise agiert der Staat nicht, sondern reagiert nur auf die Turbulenzen der Märkte und bekommt dadurch mehr denn je seine Grenzen aufgezeigt.

Von Hans Klumbies