Der Gebildete scheint aus der Zeit gefallen zu sein

Alle reden von Bildung. Nur mit ihr lässt sich in rohstoffarmen Ländern wie Deutschland und Österreich der Wohlstand von heute auch in Zukunft erhalten. Während das Schlagwort Bildung jeden Tag in vielen Medien an vorderster Stelle steht, ist der Gebildete, das eigentliche Ziel aller Bildungsanstrengungen, nicht nur aus dem Wortschatz verschwunden. Es scheint sogar so, als hätte sich jeder ernsthafte Bildungsanspruch zu einem Ärgernis entwickelt. Die Gründe dafür nennt Konrad Paul Liessmann in seinem neuen Buch „Bildung als Provokation“. Um zu fundierten Ergebnissen zu gelangen, hat er die Parteienlandschaft und soziale Netzwerke untersucht. Außerdem geht er der Frage nach, warum es für viele Menschen so unangenehm ist, gebildeten Personen zu begegnen. Konrad Paul Liessmann ist Professor am Institut für Philosophie der Universität Wien.

Der Gebildete verfügt über ein kritisches Verhältnis zu sich selbst

Der Begriff „Bildung“ kann mittlerweile überall dort eingesetzt werden, wo andere Institutionen oder Praktiken versagen. Wer Bildung sagt, hat scheinbar immer recht. Dagegen ist der Gebildete aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden. Konrad Paul Liessmann stellt fest: „Weder sollen sich Menschen bilden, noch sollen sie gebildet werden, gefordert ist heute der Erwerb von „Kompetenzen“ wie Teamfähigkeit, Kommunikationsbereitschaft, Innovationsfreude und digitale Fitness.“ Diese Beschreibung erfasst allerdings nicht, was ursprünglich einmal unter Bildung gemeint war.

Der Gebildete verfügt über ein fundiertes Wissen, das ihm erlaubt, auch ohne Zensurbehörde die Fakten von den Fiktionen zu trennen. Er besitzt ästhetische und literarische Kenntnisse und Erfahrungen, ein differenziertes historisches und sprachliches Bewusstsein sowie ein kritisches Verhältnis zu sich selbst. Auf all dem gründen sich seine abwägende Urteilskraft und eine gesteigerte Sensibilität gegenüber den Lügen, Übertreibungen, Hypes, Phrasen, Moralisierungen und Plattitüden der Gegenwart.

Konrad Paul Liessmann fordert eine neue Aufklärung

Die Bildung, die ihren Namen verdient, ist auch immer untrennbar mit der Einsicht in die eigene Unzulänglichkeit verbunden, mit dem Wissen des Nichtwissens. Diese Bescheidenheit macht sie erst zu jener Aufgabe und Haltung, die sich offen dem Anderen und seinen vielfältigen Erscheinungsformen zuwenden kann: ohne falsche und übertriebene Ansprüche, aber auch ohne den Gestus einer moralischen und intellektuellen Überlegenheit und ohne den Dünkel eines selbstgefälligen Elitenbewusstseins.

Die meisten Menschen leben heutzutage in einer selbstverschuldeten Unmündigkeit, die durch einen paternalistisch fürsorglichen Staat gefördert wird. Durch sanften Druck bringt er seinen Untertanen das gute Leben bei. Das große Ziel der Moderne, die Entfaltung der Freiheit jedes einzelnen Menschen, erscheint deshalb in weite Ferne gerückt. Die entscheidende Geste aufgeklärten Denkens, die Kritik, gehört dann auch zu einer Welt von gestern. Konrad Paul Liessmann fordert eine neue Aufklärung. Und er tut dies nicht, weil die alte nichts mehr taugen würde, sondern weil die moderne Gesellschaft im Begriff ist, deren Errungenschaften zu verspielen und ihre Ansprüche ins Gegenteil zu verkehren.

Bildung als Provokation
Konrad Paul Liessmann
Verlag: Zsolnay
Gebundene Ausgabe: 237 Seiten, Auflage: 2017
ISBN: 978-3-552-05824-8, 22,00 Euro

Von Hans Klumbies