Die Literatur war einst die Kompensation für zu wenig Leben

Der Lesende ist eine eigentümliche Erscheinung: Er ist da und doch nicht da. Er befindet sich, obwohl leiblich anwesend, in einer anderen Welt. Konrad Paul Liessmann erklärt: „Die durch Buchstaben hervorgerufene Welt im Kopf gleicht keiner anderen Welt: weder der Erfahrungswirklichkeit noch der von Bildern, noch einer durch Digitalrechnung erzeugten virtuellen Welt.“ Es ist die Kraft des Visionären, die dem Leser einen universellen Weltbezug erlaubt: Welt ist dort, wo der Leser ein Buch aufschlägt. Das machte in früheren Zeiten das Lesen und das Schreiben zum bevorzugten Medium der Menschen an Randlagen. Die Literatur war damals das eigentliche Medium der Provinz – in jeder Hinsicht. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.

Die Literatur diente der horizontübergreifenden Weltaneignung

Dort, wo das Leben wenig bot, war die Literatur lange die einzige ernsthafte Möglichkeit einer horizontübergreifenden Weltaneignung. Konrad Paul Liessmann erläutert: „Es war immer ein wohlmeinendes Gerücht, dass die Beschäftigung mit Literatur unmittelbar für das Leben tauglich macht. Sie ist vorerst eine Kompensation für zu wenig Leben.“ Der Eingang in das Reich der Literatur hatte aber seinen Preis: Erfordert war eine Disziplinierung der Sinne und des Körpers, wie sie kein anderes Medium dem Menschen abverlangte.

Im Gegensatz zur Sprache, zum Hören und zum Sehen, ist dem Menschen das Entziffern und Arrangieren von Buchstaben nicht von Natur gegeben. Lesen und Schreiben sind mehr als eine menschheitsgeschichtlich betrachtet sehr spät erfundene Kulturtechnik – sie sind eine Form der Weltaneignung und Welterzeugung, die in bestimmter Weise die Verneinung der unmittelbaren Selbst- und Welterfahrung zur Voraussetzung hat. Wer liest oder schreibt, dem muss im Wortsinn Hören und Sehen erst einmal vergehen.

Bücher sind Ausdruck einer intellektuellen Biographie

Der Sinn der Schule lag einmal darin, diese Negation erfahrbar zu machen und einzuüben. Die Welt der Buchstaben ist tatsächlich eine tote Welt, ein Sammelsurium stummer, kalter schwarzer Zeichen, die erst mühsam durch die Anstrengung und Phantasie des Lesenden zum Leben erweckt werden müssen. An der Literatur lässt sich laut Konrad Paul Liessmann ein Phänomen von Kultur überhaupt ablesen: dass gegen diese immer das Leben selbst ins Spiel gebracht werden kann. Die Klage ist uralt, dass junge Menschen lebensuntüchtig werden, wenn sie sich zu sehr der Literatur hingeben.

Im Zeitalter der Digitalisierung stellt sich allerdings auch radikal die Frage nach dem Wesen des Buches. Ein Buch ist ein in sich geschlossenes Ganzes, unabhängig von jeder Technologie. Es ist oft gesagt worden, Bücher können zu Begleitern, zu Freunden, auch zu Feinden werden. Bücher sind auch Ausdruck einer intellektuellen Biographie und der dazugehörigen Zeitgeister. Digitale Bibliotheken hingegen, auf welchem Speichermedium sie auch immer archiviert, durch welche Lesegeräte sie auch immer aktualisiert werden können, bieten etwas anderes: den nahezu unbeschränkten raschen Zugriff auf die Welt der Texte. Quelle: „Geisterstunde“ von Konrad Paul Liessmann

Von Hans Klumbies