Ein denkendes Wesen möchte nicht der Natur ausgesetzt sein

Nichts ist für den Philosophen Konrad Paul Liessmann so verführerisch wie die Aussicht, die Natur zu überlisten. Denn der Natur ausgesetzt zu sein, ist für ein denkendes Wesen furchtbar, kränkend, demütigend. Daidalos, dessen Name sich vom griechischen Wort „daidallein“ ableitet, ein kunstvolles Arbeiten bezeichnet, hat im antiken Sinne eher nicht gearbeitet. Er war Künstler, Handwerker, Erfinder, aber kein Sklave. Konrad Paul Liessmann erklärt: „Die Antike unterschied feinsinnig unterschiedliche Formen menschlicher Tätigkeit: „ascholía“, eigentlich die Nichtmuße, die Beschäftigung, die eher freudlosen Dinge, die verrichtet werden müssen, um das Lebensnotwendige bereitzustellen, das tägliche Brot im Schweiße unseres Angesichts zu verdienen.“ Diese Arbeit, die auch zur Mühe und Plage, zur Qual – „ponos“ – werden konnte, erachtete man aber eines freien Menschen für unwürdig, dafür hielt man sich Sklaven.

Die Nachahmung der Natur ist ein wesentlicher Impuls aller ästhetischen Lust

Würdiger war schon „poesis“, das Hervorbringen und Herstellen, sei es von nützlichen Dingen, sei es von Kunstwerken – der Begriff des Poeten erinnert heute noch an diese Bestimmung. Menschenwürdig allein aber war „praxis“, das soziale Handeln des Menschen – Herrschen und Lieben, Kämpfen und Verwalten, Reden und Zuhören, Helfen und Verbannen. Daidalos, und dies macht diese Figur so faszinierend, steht an der Schnittstelle dieser Tätigkeitsfelder, und er verkörpert deshalb den modernen, zeitgenössischen Typus der Arbeit, die alle anderen Formen in sich aufgesaugt hat.

In der Mimesis, der Nachahmung der Natur, sah Aristoteles einen wesentlichen Impuls aller ästhetischen Lust. Konrad Paul Liessmann erläutert: „Wir freuen uns, wenn wir etwas imitieren können, und wir freuen uns, wenn wir etwas Imitiertes sehen. Und nicht zuletzt: Durch Nachahmung kommen wir der Natur auf ihre Schliche.“ Die Arbeit des Erfinders ist nicht frei von diesem Talent zur Nachahmung. Nur geht es dem Erfinder nicht um die Herstellung von Ähnlichkeiten, um daraus einen optischen oder akustischen, letztlich also ästhetischen Genuss zu gewinnen.

Dem Erfinder geht es um die Beobachtung und Nachahmung der Natur, um daraus einen Nutzen zu ziehen un die Natur selbst unter seine Kontrolle zu bringen. Die Moderne wollte seit Francis Bacon unter Naturwissenschaft folgendes verstehen: die Natur zwingen, ihre Geheimnisse preiszugeben, um die Herrschaft über die Natur selbst zu bekommen. Die großen technischen Innovationen sollte man aber nicht der Jugend überlassen; ihr fehlt die Weisheit, damit angemessen umzugehen. Durch jede technische Lösung eines Problems entsteht ein neues Problem, das wiederum nur durch Technik gelöst werden kann.

Daidalos könnte als mythologische Chiffre für das verstanden werden, was man heute noch Arbeit nennt: Die beschwerlichsten und langweiligsten Tätigkeiten, die früher die Sklaven verrichten mussten, werden heute in hohem Maße von Automaten erledigt. Man könnte sie auch Daidalos-Maschinen nennen. Den Menschen bleibt als Arbeit die Lösung jener Probleme, die diese Maschinen hinterlassen. Oftmals wird in der Gegenwart das Daidalos-Prinzip angewandt: „Gib mir eine Aufgabe – ich werde dafür eine technische Lösung finden.“ Dabei kann die Befolgung dieses Prinzips höchst riskant sein. Wenn technische Systeme versagen, bemerkt man immer erst dann, wenn es zu spät ist. Quelle: „Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist, Adam?“ von Michael Köhlmeier und Konrad Paul Liessmann