Für Kinder hat die Zeit etwas Magisches und Spielerisches an sich

Den Begriff der Zeit definiert der deutsche Philosoph Hans Blumenberg wie folgt: „Zeit ist das am meisten Unsrige und doch am wenigsten Verfügbare.“ Der Mensch erfährt die Zeit stets qualitativ, aber er vermag dem Zeitlichen auch selbst Qualitäten zu verleihen. Für Karlheinz A. Geißler ist er deshalb nicht nur Opfer, sondern auch Täter des Zeitlichen. Der Mensch erfährt sich im Netzwerk der Zeit, er ist dabei zugleich Schauspieler und Zuschauer in einem Stück, dass er selbst geschrieben hat und immer weiter fortschreibt. Karlheinz A. Geißler zitiert in diesem Zusammenhang den argentinischen Schriftsteller Luis Borges: „Die Zeit ist ein Strom, der dich mitreißt, aber du bist der Strom; sie ist ein Tiger, der dich zerfleischt, aber du bist der Tiger; sie ist ein Feuer, das dich verzehrt, aber du bis das Feuer.“ Professor Dr. Karlheinz A. Geißler lehrt, lebt und schreibt in München. Eine der amüsantesten Erfindungen der Menschheit, die Zeit, hat er zu seinem Lebensthema gemacht.

Das Zeitgefühl von Kindern unterscheidet sich grundlegend von dem der Erwachsenen

Als Agierende verleihen die Menschen der Zeit eine Ordnung, legen Zeitsequenzen und Zäsuren fest. Laut Karlheinz A. Geißler zählt es zu den großartigen Freiheiten des Menschen, dass er Anfänge und Abschlüsse festlegen und zeitlich fixieren kann. Andererseits sind die Menschen zum Beispiel auch an ihre biologischen Zeitfenster gebunden. So gesehen, kann man sie wiederum als Opfer der Zeit betrachten. Karlheinz A. Geißler weist darauf hin, dass die alterstypische Entwicklung des Zeitbewusstseins dies noch deutlicher zeigt.

Die Wahrnehmung der Zeit und das Handeln in der Zeit von Kindern unterscheiden sich gemäß Karlheinz A. Geißler gravierend von denen der Erwachsenen. Er erklärt: „Vorschulkinder sind in ihrem Zeithandeln vor allem von ihren Stimmungen und Bedürfnissen gesteuert. Sie agieren spontaner, sprunghafter und emotionaler als Erwachsene.“ Die Zeit hat für sie, falls sie überhaupt eine Rolle spielt, eher etwas Magisches, etwas Spielerisches. Fremd hingegen ist Kindern ein rational-strategisches Zeitdenken und Zeitverhalten.

Kinder können die Logik der Uhr noch gar nicht verstehen

Kinder können die Zeit auch viel besser vergessen als Erwachsene. Sie sind den Erwachsenen auch darin überlegen, wenn es darum geht, vielerlei unterschiedliche Formen und Qualitäten der Zeit zu leben und rasch zwischen ihnen hin und her zu wechseln. Karlheinz A. Geißler erläutert: „Ermahnungen, auf die Uhr zu schauen, pünktlich zu sein und ja nicht zu spät zum Essen zu kommen, sind bei jüngeren Kindern vergebliche Liebesmüh.“ Sie wehren sich seiner Meinung nach zu Recht, ihr Verhalten an der ihnen fremden, weil unverständlichen Logik der Uhrzeiger auszurichten.

Die Kinder verweigern in einem solchen Fall den Gehorsam ihren Eltern gegenüber nicht aus Trotz oder Widerstand, sondern weil sie die Logik der Uhr nicht verstehen beziehungsweise noch gar nicht verstehen können. Karlheinz A. Geißler nennt den Grund dafür: „Um den Gang der Uhr zu verstehen und zu interpretieren, gehören nämlich entwicklungspsychologische Voraussetzungen, zum Beispiel die der Abstraktionsfähigkeit, die sich erst im Laufe der Kindheit entwickelt.“

Von Hans Klumbies