José Ortega Y Gasset seziert die Undankbarkeit

Für José Ortega Y Gasset ist die Undankbarkeit das schwerste Gebrechen des Menschen. Diese Behauptung stützt er darauf, dass jedes widergeschichtliche Verhalten des Menschen, dessen Wesen gleichbedeutend mit seiner Geschichte ist, eine Art Selbstmord bedeutet. Der spanische Philosoph schreibt: „Der Undankbare vergisst, dass das meiste von dem, was er besitzt, nicht sein Werk ist, sondern dass es ihm von andern geschenkt wurde, die sich bemühten, es zu schaffen und zu erhalten.“ Indem der Mensch das vergisst, verkennt er von Grund aus die wahre Beschaffenheit dessen, was er besitzt. Er glaubt an das freie Geschenk der unzerstörbaren Natur.

Die Menschen verdanken fast ihren ganzen Besitz der Vergangenheit

Der moderne Mensch macht sich nicht mehr wirklich klar, dass er fast alles, was er besitzt, der Vergangenheit verdankt und dass er deshalb bei seinem Umgang mit ihr mit großer Aufmerksamkeit, viel Zartgefühl und Scharfsinn vorgehen muss. José Ortega Y Gasset erläutert: „Die Vergangenheit vergessen, ihr den Rücken kehren, ruft die Wirkung hervor, die wir heute vielfach beobachten können: die Rebarbisierung des Menschen.“ Die Aufgabe der Philosophie besteht unter anderem darin, dass sich der Mensch selbst erkennt und begreift wer er ist und das was ihn umgibt in seiner echten und ursprünglichen Wirklichkeit ist.

Das heißt für José Ortega Y Gasset nichts anderes, als dass die Undankbarkeit eine schreckliche philosophische Blindheit beim Menschen hervorruft. Wenn die Menschen dankbar wären, hätten sie laut José Ortega Y Gasset ohne weiteres eingesehen, dass sie alles, was ihnen die Erde als Wirklichkeit bedeutet, der Anstrengung und dem Geist anderer Menschen verdanken.  Auch was den Menschen in ausreichendem Maß erlaubt ist, zu wissen, wie sie sich der Erde gegenüber zu verhalten haben, was sie beruhigen kann, um nicht von unaufhörlichen Ängsten erstickt leben zu müssen, verdanken sie den Mühen ihrer Mitbürger.

Der Mensch ist vor allem Erbe

José Ortega Y Gasset schreibt: „Ohne ihre Anstrengungen stünden wir in unserer Beziehung zur Erde und ebenso zu allem übrigen, was uns umgibt, wie der erste Mensch da, das heißt von Angst und Schrecken überwältigt.“ Alle diese Anstrengungen haben die Menschen laut José Ortega Y Gasset in der Form von Glaubensgewissheiten ererbt, die das Kapital sind, von dem sie leben. Er erklärt: „Aber zu wissen, dass man Erbe ist, heißt historisches Bewusstsein zu haben.“

Die größte und vielleicht elementarste Wahrnehmung, die das Abendland irgendwann in der Zukunft machen wird, wenn es endlich aus dem Rausch der Unvernunft erwacht sein wird, der es im 18. Jahrhundert erfasste, wird sein, dass der Mensch vor allem Erbe ist. Dies und nichts anderes ist es, das den Menschen wesensmäßig vom Tier unterscheidet.

Von Hans Klumbies