Das Unbewusste entsteht vor dem Bewussten

Innerhalb des Rahmens der kognitiven Psychologie mit ihrem Primat des Bewusstseins konnte es einen unbewussten Prozess nur dann geben, wenn er zuerst bewusst und vorsätzlich wäre; erst nach beträchtlicher Erfahrung konnte dieser Prozess so reibungslos und effizient verlaufen – in der Psychologie benutzt man dafür den Begriff „automatisiert“ –, dass es keiner großen bewussten Steuerung mehr bedürfte. Bis zur Jahrtausendwende gingen John Bargh und seine Kollegen davon aus, dass dies die einzige Möglichkeit der Entstehung unbewusster mentaler Prozesse sei: Zu Beginn bewusst und aufwendig, gewinnen sie erst durch Erfahrung und Übung die Fähigkeit, unbewusst abzulaufen. Doch sie lagen falsch oder zeichneten zumindest ein unvollständiges Bild. Prof. Dr. John Bargh ist Professor für Psychologie an der Yale University, wo er das Automaticity in Cognition, Motivation, and Evaluation (ACME) Laboratory leitet.

Das Gehirn des Menschen hat sich langsam entwickelt

Denn inzwischen gilt als bewiesen, dass einem Individuum sehr viele Fähigkeiten im Umgang mit seinen Mitmenschen praktisch schon in die Wiege gelegt sind. Man geht jetzt davon aus, dass im Lauf der menschlichen Evolution die grundlegenden psychologischen und verhaltensbezogenen Systeme ursprünglich unbewusst und bereits vor der ziemlich späten Entstehung von Sprache und dem bewussten intentionalen Gebrauch dieser Systeme vorhanden waren. Mit Systemen meint John Bargh die natürlichen Mechanismen, die das menschliche Verhalten steuern, wie etwa auf Dinge und Menschen zugehen.

John Bargh schreibt: „Bereits als Säuglinge verfügen wir über fundamentale ausgebildete Antriebskräfte und Neigungen, die rein automatisch ablaufen, bis wir mit etwa vier Jahren anfangen, die bewusste intentionale Kontrolle über unseren Geist und unseren Körper zu entwickeln.“ Wie die Forscher heute wissen, hat sich das menschliche Gehirn im Lauf der Zeit langsam entwickelt, erst zu einem sehr einfachen unbewussten Apparat ohne die bewussten Fähigkeiten der Vernunft und der Kontrolle, über die der Mensch heute verfügt.

Der Mensch ist kein geistloser Automat

Das Bewusstsein war keine andere, neue Art von Geist, die wundersamerweise eines Tages wie aus dem Nichts aufgetaucht wäre. Es war ein fabelhaftes Zusatzprogramm zu der alten, unbewussten Maschinerie, die nach wie vor in jedem Menschen steckt; es verschaffte ihm neue Möglichkeiten, seine Bedürfnisse und Wünsche zu befriedigen, und verlieh ihm die Fähigkeit, seine alter Maschinerie von innen her ziel- und zweckgerichtet einzusetzen. Der Mensch ist kein geistloser Automat, völlig abhängig von äußeren Stimuli, die ihn wie eine Aufziehpuppe durch das Leben laufen lässt.

Aber der Mensch ist auch kein allwissender Herr seiner selbst, der jeden Gedanken und jedes Handeln voll und ganz unter Kontrolle hat. John Bargh weiß: „Vielmehr besteht eher ein ständiges Hin und Her zwischen den bewussten und unbewussten Operationen unseres Gehirns und zwischen dem, was in der Welt außerhalb von uns sowie in uns selbst vorgeht – unsere jeweiligen Interessen und Zielsetzungen, Nachwirkungen unserer jüngsten Erfahrungen.“ Und viele davon hängen mit der Antriebskraft Nummer eins aus unserer fernen Vergangenheit zusammen, die den menschlichen Geist geformt hat – die eigenen Gene am Leben zu erhalten. Quelle: „Vor dem Denken“ von John Bargh

Von Hans Klumbies