Ein erschöpftes Ich braucht Reduktion von Stress

Wer einen anstrengenden Tag hat, der an die eigenen Konzentration und Aufmerksamkeit ständig hohe Ansprüche stellt, befindet sich in jeder kleinen Pause, erst recht aber am Abend in einem Zustand, den der Sozialpsychologe Roy Baumeister Erschöpfung des Ichs genannt hat. Joachim Bauer erklärt: „Dabei handelt es sich um eine vorübergehende Erschöpfung der Selbstkontrollkapazität aufgrund einer vorherigen Überbeanspruchung durch Stress.“ Fast alle Menschen, die in den westlichen Industriestaaten einer Arbeit nachgehen oder in einer Ausbildung stehen, leben ein Leben, dass ihr Ich und seine Steuerungskraft immer wieder an den Rand der Erschöpfung bringt. Betroffen davon sind alle Altersstufen. Joachim Bauer ergänzt: „Die Folge der dadurch erzeugten Erschöpfung des Ichs ist, dass wir, sobald der Druck nachlässt, regredieren, das heißt, den tiefen Wunsch haben, etwas zu tun, dass uns keinerlei geistige Aufmerksamkeit oder sonstige Anstrengung abverlangt.“ Der Neurobiologe, Arzt und Psychotherapeut Joachim Bauer lehrt an der Universität Freiburg.

Stress kann dick machen

Was ein erschöpftes Ich dringend braucht, ist die Reduktion von Stress. Leider tun Menschen bekanntlich oft gerade dann, wenn höchste Not herrscht, nicht immer das, was wirklich hilft. Joachim Bauer erläutert: „Eine typische Reaktion in einer Situation der Erschöpfung des Ichs ist der Wunsch nach etwas Essbaren zwischendurch, die Suche nach einer Zigarette oder der Griff nach einem alkoholischen Getränk.“ Viele Menschen versuchen auch vor einem Bildschirm abzuschalten. Bei anderen meldet sich der Wunsch, etwas zu kaufen, ohne dass man wirklich etwas bräuchte.

Diese genannten Versuche, dem Stress zu entkommen, sind nicht wirklich hilfreich. Die Volksweisheit, wonach Stress dick machen kann, beruht auf der Tendenz vieler Menschen – Kinder eingeschlossen –, sich im gestressten Zustand zum Zwecke der Beruhigung ständig etwas in den Mund zu schieben, vorzugsweise zucker- und fettreiche, minderwertige Nahrungsmittel. Joachim Bauer fügt hinzu: „Nikotin, Alkohol und kleine Snacks erzeugen zwar einen kurzfristigen Zustand vermehrter Energie, dem dann aber rasch ein Tief nachfolgt – was bedeutet, dass der Konsum alsbald wiederholt werden muss.“

Immer mehr Menschen finden keine innere Ruhe mehr

Im Zustand der Erschöpfung des Ichs tatsächlich helfen kann eine – auch nur kurze Zeit der reinen Ruhe, eine Dosis Bewegung oder stressfreier Sport. Man sollte daher der Versuchung widerstehen, in Momenten der Erschöpfung zu – im Prinzip immer Sucht erzeugenden – Genussmitteln zu greifen. Sinnvoll ist es, sich zu überlegen, wie man die kleinen Pausen des Tages individuell gestalten möchte. Manchen Menschen tun einige Minuten des Rückzugs oder ein paar Schritte im Freien gut, andere lieben es, zwischendurch Streck- und Dehnübungen einzulegen.

Gesunde Snacks, zum Beispiel für die Pausen vorbereitete Vollkornprodukte und Rohkost, finden zunehmend Verbreitung. Doch nicht nur für das leibliche, auch für das geistige Wohl lässt sich etwas tun. Joachim Bauer stellt fest: „Immer mehr Menschen spüren, dass sie keine innere Ruhe finden und nicht mehr abschalten können. Die Fähigkeit, den Geist zu fokussieren und zu beruhigen, lässt sich üben.“ Die sogenannte Mindfulness-Based Stress Reduction, zu Deutsch „Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion“ ist eine wissenschaftlich evaluierte und effektive Übungspraxis, die in Gruppen gelehrt wird, sich dann im Alltag aber auch alleine anwenden lässt.

Von Hans Klumbies